Karin Arnold (16)

Hamburg, mon amour

Ich steige aus dem Zug, blicke mich um und – ich bin in Hamburg. Leute rennen von hinten an mir vorbei, schwingen ihre Taschen um meinen Kopf und eilen die Treppen hinauf, um sich an den vielen kleinen Imbissbuden etwas zu essen zu kaufen. Ich stehe eine Weile wie versteinert da und starre die verzerrten Gesichter der Menschen an, die an mir vorbeirasen, auf dem Weg zum nächsten Zug, in eine andere Stadt. Langsam fahre ich auf der Rolltreppe nach oben und lese mir die Werbeplakate durch, die riesengroß über den Gleisen hängen. Schließlich drücken mich die Menschenmassen hinaus auf die Straße. Autos fahren hupend vorbei, aber das Hupen hört man nicht durch das Gewirr aus Worten, Gesprächsfetzen und Handy-Klingeltönen, das einen umweht. Von irgendwoher kommt ein kühler Windhauch, und ich mache mir den Mantel zu, während ich über die Straße gehe. Mein Blick fällt auf das alte, verfärbte Wasser unter der Brücke. Auf den Kanaldeckeln liegen weggeworfene Zigaretten, die in einer der Pfützen längst abgebrannt sind. Aus den Abwasserschächten des Kanals ragen Algen heraus, die der Elbe entwischt sind und sich zwischen den Gittern verhakt haben. Ich gehe ein Stück weiter, bis ich zu einem weißen Pavillon am Wasser komme. Davor sitzen ein paar Studenten auf der Mauer und lachen über einen Witz, den einer von ihnen gerade gemacht hat, und ich öffne die Tür und gehe hinein. Ein Kellner kommt den Gang entlanggelaufen, und ich stoße fast mit seinem riesigen Tablett zusammen. Ich schiebe mich bis zu den Kuchen durch. Überall im Raum stehen kleine, weiße Stühle und Tische, an denen die Leute sitzen und lachen und reden, aber man kann sie nicht verstehen bei dem Geklapper des Bestecks und den Schritten der Kellner und der Musik, die aus den Lautsprechern in der Ecke dringt.


Ich kam nach Hamburg, als ich 21 war. Ich stieg aus dem Taxi, und mein erster Spaziergang am Abend führte mich an der Alster entlang. Ich war nicht lange in Hamburg, weil ich woanders einen Studienplatz fand, aber keine andere Stadt ist mir so im Gedächtnis geblieben wie Hamburg.


Ich hatte mich auf einer Bank vor dem Rathaus hingesetzt, mit einer Tüte Pommes in der Hand, und kam mir ein wenig englisch vor. Es hatte angefangen zu regnen, und als die Möwen die Pommes in meiner Hand entdeckt hatten, kamen sie angeflogen und umkreisten mich so lange, bis ich ihnen etwas abgab. Die Leute liefen mit Kapuzen auf ihren Köpfen vorbei und hielten ihre Einkaufstaschen unter den Mänteln, damit sie nicht nass würden, während sie über den Platz und die Pfützen sprangen, in eines der Geschäfte in der Mönckebergstraße oder in ein Restaurant an einem der Kanäle.


Ich war nie reich und wurde es auch nie, auch nicht, als ich vorm Hauptbahnhof saß mit ein paar anderen Pennern und ihren Hunden. Ich hatte auch einen, es war ’n Kampfhund, aber dann kam das Verbot, und er brauchte ’nen Maulkorb. Vor ein paar Jahren ist er gestorben, aber ich sitze noch immer auf der Decke in St. Georg und warte auf irgendetwas. Manchmal kommt die Polizei vorbei und macht Ärger, aber das kratzt so jemanden wie mich nicht.


Es hört langsam auf zu regnen, und ich stehe auf, um durch die Einkaufsstraßen zu bummeln und mir die Schaufenster anzusehen. Der Schwarm der Leute vor mir zeigt mir, wo es langgeht, und ich brauche ihnen nur zu folgen, und schon bin ich in der Mönckebergstraße. Rechts und links sind breite Gehsteige für die Passanten, und dazwischen fahren die Busse, die Taxen und die Lieferwagen. Neben den Gehsteigen stehen schmale Bäume, an deren Zweigen noch immer die Lichterketten von Weihnachten hängen. Rechts von mir eröffnen sich riesige Schaufenster, in denen sich die unterschiedlichste Ware nur so türmt, und die Türgriffe zu den Geschäften sind vergoldet. Ich sehe nicht auf die Preisschilder, weil ich genau weiß, dass ich mir so etwas niemals leisten könnte. Und doch gehe ich lächelnd die Straße entlang, zwischen all den reichen Leuten mit ihren Handtaschen, und gehe irgendwann den U-Bahnschacht hinab und nehme die nächste Bahn zur Reeperbahn.


Wenn ich jetzt noch einmal auf die Reeperbahn gehe, dann hat sie ihren kompletten Charme verloren. Weil alles, was jetzt erlaubt ist, vor vierzig Jahren noch verboten war.


Als ich aus dem U-Bahnschacht nach oben ans Tageslicht komme, riecht es ganz anders als auf der Mönckebergstraße und an der Alster. Ich schaue mich um, und mein erster Blick fällt auf ein paar verwahrloste Gestalten, die auf Plastikbänken sitzen und aus Flaschen ihren Alkohol trinken. Der eine lehnt sich nach links, und die gesamte Bank fällt mit ihm zu Boden, und er fängt an zu lachen. Ich gehe vorbei und werfe ein paar Blicke auf die Plakate zur Rechten, die versuchen, einem irgendwelche Vergnügungsangebote schmackhaft zu machen. Auf der anderen Straßenseite steht ziemlich einsam zwischen all den zweifelhaften Lokalen und abgeblätterten Häuserfassaden das Polizeigebäude. Je weiter ich die Reeperbahn hinaufgehe, desto ärmer sehen die Menschen aus, die mir entgegenkommen. Ich bezweifle nicht, dass sie nicht ihren Spaß hätten, aber ich empfinde sehr schnell Mitleid, und für sie auch.


Ich liebe die Reeperbahn. Nicht als Vergnügungsmeile oder Ähnliches, sondern als eine besondere Straße in einer besonderen Stadt. Was auch immer man schon über die Reeperbahn gelesen oder gehört hat, es nimmt eine ganz andere Dimension an, wenn man dort ist. Aus irgendeinem Grund kommt man sich dort verdammt wichtig vor, wie jemand auf der Suche nach dem passenden Funken. Auch wenn alles so ärmlich und heruntergekommen aussieht – es schwirrt eine Menge Geschichte dort herum, wahrscheinlich mehr, als irgendwo sonst in Hamburg.


Ich sehe auf die Uhr und beschließe, zurück zum Bahnhof zu fahren. Es wird schon kälter und dunkler, und gerade, als ich auf der Treppe in den U-Bahnschacht entschwinde, spüre ich auf meiner Stirn wieder Tropfen. Mein Mantel weht mit mir die Stufen hinunter. Es riecht nach Alkohol dort unten, und als ich mich umsehe, sehe ich die leeren Flaschen in den Ecken stehen, und aus der einen oder anderen fließt noch ein Tropfen heraus, wie zum Abschied. Ich stelle mich neben das Gleis auf den Bahnsteig, und meine Augen verfolgen die Zeiger auf der Uhr, während ich auf die Bahn warte. An den Bahnsteigen haben sie jetzt riesige Bildschirme angebracht, auf denen alle paar Minuten die neuesten Nachrichten eingeblendet werden und für alle möglichen Dinge geworben wird. Ein Mann mit Aktentasche setzt sich auf die Bank hinter mir und kramt sein Handy aus der Tasche hervor, um zu telefonieren. Ein anderer geht zu dem Getränkeautomaten und holt eine Dose Bier heraus, die er sogleich leert. Zwei Frauen kommen vorbei und bleiben unweit von mir stehen und lachen über irgendetwas, was eine von ihnen gesagt hat. Ihre Schuhe klappern über die Platten am Boden, als sie ein Stück weitergehen und sich schließlich auf eine der Bänke setzen. Ein paar Meter weiter steht ein Mann mit gesenktem Kopf auf dem Bahnsteig. Er sieht noch nicht alt aus, aber sein Gesicht ist zerfurcht von all dem Alkohol. Noch zwei kommen mit ihrem Hund die Treppe herunter und lallen irgendetwas in den Bahnschacht hinein, und von den Mauern hallt das Echo wider und wider, bis der Zug kommt.


Ich bin in Hamburg geboren. Nicht gerade im besten Stadtteil, aber es war okay. Ich musste mich ja an nichts gewöhnen, ich kannte es ja nur so. Ich fuhr jeden Tag mit der U-Bahn und stand Seite an Seite mit nicht gerade Vertrauen erweckend aussehenden Leuten, und auf der anderen Seite standen piekfeine Bengel in Anzug und Krawatte. Vor ein paar Monaten bekam ich Besuch von einer Freundin aus einer Kleinstadt. Ich schlug ihr vor, in die Innenstadt zu fahren, und sie fragte, wie wir dort hinkommen würden. Ich sagte, wir fahren mit der U-Bahn, und sie meinte, sie würde lieber zu Fuß gehen, weil die U-Bahn nach der Sache in London ja nicht mehr sicher sei.


Auf dem Weg von der U-Bahnstation zum Hauptbahnhof hörte ich die Straßenmusikanten, die am Straßenrand standen und auf ihren Gitarren Melodien spielten, die ich noch nie gehört hatte. Vor ihnen stand ein umgestülpter, alter Hut, und darin lagen ein paar Münzen und nicht mehr, und ich zog mein Portemonnaie hervor, um ihnen ein wenig Geld zu geben. Ich ging weiter, und die Melodien, die sie spielten, vergingen auch dann nicht, als sich die Zugtüren hinter mir schlossen.