Benjamin Dullnig (19)

Endlos

Seit einer halben Stunde fährt mein Vater. Die Sonne scheint von vorne in diesen kleinen VW-Bus, in dem wir sitzen. Mein Sonnenschutz ist heruntergeklappt. Ich kann wieder meinen Gedanken nachhängen. Mein Vater hat diesen konzentrierten Blick, wie immer, wenn er fährt.


Seufzend stütze ich meinen Kopf am Fenster ab, und versuche, die Musik, die im CD-Player läuft, zumindest aus meinem Kopf zu verbannen. Die Landschaft, die an uns vorbeizieht, unterstützt nur die Monotonie der Fahrt. Mit nur wenigen verbrannten Bäumen. Verdorrte Pflanzen, braun. Waldbrände soll es hier oft geben.

»I am from Austria«, kommt aus den Lautsprechern, worauf ich nur angewidert das Gesicht verziehen kann. Eigentlich wollte ich ja nichts sagen, aber nun fühle ich mich fast gezwungen.

»Können wir nicht was anderes hören? Das ist doch ärgster Patriotismus und total bekloppt«, sage ich und warte gespannt auf die Antwort, die ich schon zu kennen glaube.

»Vorher bist du gefahren, da haben wir deine Musik gehört. Jetzt fahre ich, und wir hören eben meine«, sagt er, sieht mich dabei nicht einmal an. Er will wohl keine Diskussion führen.

Dann eben erst recht.

»Ich meine, dieser Patriotismus ist doch einfach schwachsinnig. Na ja, was ist denn bitte so toll an Österreich, dass man irgendwie stolz sein könnte?«

Immerhin sieht er jetzt her. Wieder ein verbrannter Waldfleck, mein Vater beachtet es aber nicht.

Er antwortet: »Das ist doch nur ein Lied, außerdem warum darf ich meine Heimat nicht schön finden, und warum soll ich keinen Stolz verspüren, es könnte doch so viel schlimmer sein.«

»Aber es könnte auch wesentlich besser sein«, sage ich.

»Du kannst nicht mit dem zufrieden sein, was du hast, oder? Als ich noch jung war, kannten wir Respekt und Anstand.«

»Jetzt fehlt nur noch, dass du von ›Ehre und Treue‹ anfängst«, sage ich.

Die Straße führt weiter geradeaus, die Landschaft sieht auf beiden Seiten gleich aus. Verdorrtes Braun und verbranntes Schwarz, das wie Brei dahinfließt.

»Warum Ehre und Treue?«, fragt mich mein Vater.

»Der Leitspruch der Waffen-SS war ›Unsere Ehre ist die Treue‹, und der Nationalismus, den du da gerade vertreten hast, hat mich eben daran erinnert.«

Auf der CD beginnt gerade eine herzzerreißende Liebespassage, und ich sehe weiter aus dem Fenster, als die Musik abbricht. Das Summen des Motors wirkt plötzlich sehr still. Soll ich es wagen, nach diesem Vorwurf hinzusehen? Ich blicke hinüber, und sehe, wie mein Vater die CD aus dem Player nimmt.

War das jetzt zu viel? Habe ich mich zu weit vorgewagt?

»Was meinst du damit«, presst er hervor.

»Weiß nicht, vielleicht, dass du ein Spießer bist?«, sage ich und sehe nun vollends zu ihm hinüber.

Er atmet lange aus: »Und wie definierst du einen so genannten Spießer?«

Das Auto fährt in eine Vertiefung, ab hier ist die Straße nicht mehr asphaltiert, nur noch Kies. Ein Rauschen setzt ein, und Steinchen werden vom Wagen weggeschleudert.

»Ein Spießer ist ein Mensch, der in Zwängen und Hierarchien verhaftet ist und diese reproduzierten Meinungen als seine eigenen ausgibt.«

Meine Mundwinkel wandern nach oben, daran wird er zu kauen haben.

»So analysierst du mich also. Und wie drückt sich das dann in meinem Verhalten aus?«

Ich sehe wieder nach vorne, der Straße entlang, dem Horizont entgegen.

»Ja, eigentlich schon. Sieh dir doch nur mal an, wie du lebst. Dein Beruf, dein religiöser Kram, es ist doch einfach absurd, alles auf irgendein höheres Wesen oder was auch immer zu beziehen. Eine Macht, für die es nicht einen einzigen Beweis gibt.«

»Und was machst du?«, fragt er mich, »Du beziehst dein gesamtes Denken aus angeblich weisen Theorien von Leuten, die ja nicht umsonst fast alle aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Sie propagieren abstruse Gedankengänge über große Zusammenhänge und vergessen dabei doch zuletzt immer auf eines: darauf, auch mal etwas zu tun und nicht nur das ganze Leben zu zergrübeln, was sie irgendwie als das ultimativ Böse zu erkennen glauben. Sie loben sich lieber gegenseitig, um nicht wirklich nachdenken zu müssen.«

Auf der linken Seite der Straße erstreckt sich verbranntes Land. Schwarze Baumleichen ragen noch einzeln aus dem Boden.

»Diese Leute haben wenigstens nachgedacht und nicht ihre Verantwortung und ihre Entscheidungen einem höheren Wesen überlassen. Das hat doch sehr viel mehr mit Selbstbestimmung zu tun, als wenn du etwas glaubst, das angeblich vor zweitausend oder mehr Jahren passiert sein soll. Danach dein Leben auszurichten, warum?«

»Weil es mir hilft, zu leben.«

Langsam verändert sich die Landschaft, die Bäume stehen immer spärlicher.

»Das hast du immer gemacht und als Ausrede verwendet«, sage ich. »Für deine Unfähigkeit, dich mit Problemen auseinander zu setzen, davonzulaufen und mich hängen zu lassen.«

Ich kralle mich am Griff über dem Fenster fest.

»Und das tust du heute noch. Du lässt mich immer nur hängen. In der Luft, und ich weiß nie, wann ich aufschlage.«

»Wie bitte?«, fragt er, »Das hab’ ich jetzt nicht verstanden.«

Meine Adern treten hervor, so fest umfasse ich den Griff, um ihn nicht zu schlagen. Das macht er immer so, wenn er etwas nicht hören will. Ich frage mich manchmal, warum es mich noch nervt.

»Ist egal, wenn du es nicht hören willst, dann eben nicht.«

»Du willst mir ja gar nichts erzählen, und dann wunderst du dich, warum ich nicht so viel über dich weiß«, sagt er.

»Na, wie solltest du auch, wenn du mir nie zuhörst, wenn ich denn wirklich mal etwas zu sagen habe. Gut, dass ich dich nicht immer sehen muss. Da würde ich durchdrehen.«

Er geht vom Gas, der Motor heult auf, als er einen Gang tiefer schaltet. Seine Hand verkrampft sich um den Schaltknüppel, und die Kupplung knirscht. Das Auto wird langsamer.

»Und du traust dir zu, über mich zu urteilen, weil du meinst, verstanden zu haben, um was es bei uns beiden wirklich geht.«

»Wenn du so von mir denkst, dann hast du kein Wort von dem verstanden, was ich jemals zu dir gesagt habe.«

»Dann erklär mir bitte, was du meinst.«

»Also ich, … ach scheiße, keine Ahnung, was ich meine. Ist doch egal, du würdest es sowieso nicht verstehen.«

»Wie kannst du das wissen, bevor du es versuchst«, fragt er.

»Du sagst zum Beispiel, Israel sei böse, weil sie die Häuser von armen Palästinensern niederwalzen, und du kannst verstehen, dass diese Leute dann Selbstmordattentate verüben. Aber abgesehen davon, dass ein Selbstmordattentat sowieso das Bekloppteste überhaupt ist, ergreifst du Partei für eine Gruppe in diesem Konflikt. Es ist also im Rückschluss in Ordnung, Jüdinnen und Juden umzubringen. So haben aber schon andere argumentiert, und die nennt man Nazis. Wie bitte kannst du so eine Meinung auch nur ansatzweise ernsthaft vertreten? Du versuchst nicht mal nachzudenken oder mich zu verstehen.«


»Scheiße, was soll denn das jetzt«, sagt mein Vater und sieht auf die Anzeigen. Der Motor des Kleinbusses beginnt zu stottern. Ich bin froh, nicht mehr weiterreden zu müssen. Er bringt den Wagen zum Stehen.

Er dreht den Kopf herum und sieht mir in die Augen.

»Weißt du, manchmal ist es echt schwer, dein Vater zu sein.«

Fassungslos sehe ich ihn an. Er steigt aus und schlägt die Tür zu. Ich ziehe meine Beine an den Körper.


Ich höre, wie die Heckklappe aufgeht, und mein Vater die Matte über dem Motor beiseite schlägt. Ich löse den Gurt, steige aus, und schlage die Tür zu. Langsam gehe ich nach hinten, lehne mich an die Ecke des Wagens. Mein Vater ist über den Motor gebeugt. Er richtet sich auf, sieht mich aufmunternd an und zeigt mir einen Schlauch, wahrscheinlich die Dieselleitung.


Ich verschränke die Arme.

»Und jetzt?«, frage ich.