Irene Deubelbeiss (18)

Regina

Wir liegen nebeneinander im Gras, und ich versuche, fingerlange Halme ineinander zu flechten. Als Regina sich aufsetzt, hinterlässt ihr Rücken einen Abdruck im Gras. Meine Haare kleben in nassen Strähnen an meinen Wangen und an meinem Hals. Regina will, dass ich wieder vom Meer erzähle. Sie fragt, wie das Ende vom Meer aussieht.

»Das Meer hat kein Ende«, sag’ ich, ich hab’ die Geschichte schon oft erzählt. »Aber am Horizont, da sieht man, wie es sich krümmt, weil die Erde darunter rund ist.«

Ich zeichne einen großen Halbkreis in die Luft, und Regina starrt in die Leere, als könne sie ihn wirklich sehen. Sie will wissen, was ein Horizont ist, und ich sage: »Der Horizont ist da, wo die Augen nicht mehr weiter sehen können.«

Regina stellt immer die gleichen Fragen, weil sie meine Antworten mag, und so erzähle ich immer wieder dasselbe. Regina will endlich los, aber ich sage ihr, dass sie noch nicht soweit ist.

»Im Meer kannst du so weit schwimmen, wie du willst, du kommst nie ans andere Ende«, sage ich. »Also musst du gut schwimmen können, sonst ertrinkst du irgendwann.«

Das hätte ich nicht sagen sollen. Regina kann nicht gut schwimmen, im Wasser hat sie immer Angst, dass ich sie loslasse. Ich stehe auf und ziehe sie mit mir. Sie schreit, als ich mich mit ihr im Arm wieder ins Wasser werfe.

In der Mitte des Teiches lasse ich sie los, halte nur noch ihre Hände fest.

»Du musst die Beine bewegen«, sage ich, aber Regina hört mich nicht. Sie strampelt nur unkontrolliert, und ich muss sie wieder hochziehen, als sie untergeht. Sie hustet und schnappt nach Luft. Aber schließlich bleibt sie oben.

Regina sagt, dass sie jetzt auch im Meer nicht mehr untergehen würde. Sie strahlt mich an. Der Teich hinterm Haus ist nicht mehr groß genug: Meine Schwester will das Meer sehen, von dem ich immer erzähle, und wir müssen jetzt los. Ich hab’s ihr versprochen.


Der Asphalt unter unseren Füssen ist warm, und die feuchten Sohlen hinterlassen schwarzglänzende Abdrücke. Regina tun die Füße weh, sagt sie. Ich nehme ihre Hand und ziehe sie weiter. Sie ist es doch, die zum Meer will.

Endlich hält ein Auto neben uns an, ein Kleinlaster. Der Mann in dem karierten, verschwitzten Hemd fragt uns, ob wir uns verlaufen haben.

Ich schüttle den Kopf und sage, wir wollen zum Meer. Er lacht, aber bietet an, uns ein Stück mitzunehmen.

Regina schaut zu mir hoch und schüttelt den Kopf, aber ich sage trotzdem: »Ja.«

Am Boden der Ladefläche kleben einzelne Strohhalme, und Regina lässt meine Hand noch immer nicht los.

Sie sieht nicht über den Rand der Ladefläche hinaus, und nach einer Weile fragt sie mich, wo wir sind. Ich blicke hinaus und sehe die abgeernteten Felder zwischen unserem Dorf und dem Nachbarort.

Ich sage, dass ich es nicht weiß und dass wir wohl schon weit weg sind von Zuhause. Regina sagt, dass es schon nach Meer riecht.

Ich nicke, obwohl ich bloß feuchtes Metall rieche.

»Du weißt schon, dass das Meer kalt sein wird.«

Regina nickt. Wenn sie meine Hand hält, ist sie auf alles gefasst. Sie drückt meine Hand so fest, dass meine Finger ganz feucht werden, aber ich lasse nicht los.

Wir legen uns auf den Rücken, auf den harten Blechboden der Ladefläche, und unsere Köpfe werden durchgeschüttelt. Aber wir wollen die Bäume sehen, die sich rechts und links der Straße in unser Blickfeld beugen und dann an uns vorbeiziehen.

Regina ist so fasziniert, dass sie gar nicht merkt, wie ich ihre Hand loslasse und mich wieder aufsetze.

Ich halte mich am Rand der Ladefläche fest und ziehe mich daran nach vorne. Ich sehe die bleichen, dünnen Haare des Fahrers, und ich beuge mich nach vorne durch das Loch in der Hinterwand der Fahrerkabine, wo wohl einmal eine Scheibe war.

Der Fahrer bemerkt mich, doch sein Blick bleibt auf die Straße gerichtet.

»Zu welchem Meer wollt ihr denn?« fragt er, doch ich weiß keine Antwort.

»Einfach ans Meer.«

»Ihr wisst aber, dass das weit ist bis dahin?«

Ich fahre mit dem Finger an der Metallkante entlang. Ich weiß das natürlich, aber ich versuche, nicht daran zu denken. »Ich will es meiner Schwester zeigen. Das hab’ ich ihr versprochen.«

»Warst du schon mal da?«

Ich nicke. »Wir haben da mal gewohnt.«

»Und jetzt habt ihr Heimweh?«

Ich schüttle den Kopf. »Regina kann sich gar nicht erinnern. Darum will sie es ja sehen.«

Ich blicke zu Regina zurück. Sie hat die Arme in die Luft gestreckt und versucht, irgendwas einzufangen.

Der Mann will wissen, was ich denn weiß vom Meer. Ich erzähle ihm, was ich auch Regina erzähle. Er lacht und findet, das sei nicht sehr viel.

Ich beiße auf meiner Unterlippe herum. Dann lehne ich mich noch weiter nach vorn und verrate ihm das Geheimnis, das mich bedrückt.

»Eigentlich«, sage ich, »Weiß ich auch nicht mehr genau, wie das ist am Meer. Das ist so lange her.«

»Das Meer ist schön. Deiner Schwester wird es gefallen.«

Ich verschränke die Arme und lege meinen Kopf darauf. »Was ist daran denn so schön?«

Er hebt die Schultern. »Da hört das Land endlich auf. Da muss es doch schön sein.«

Ich blicke nach oben, wo man nur die Wipfel der Bäume sieht vor dem hellen Abendhimmel. Er aber schaut nach links und rechts, da sind hinter den Baumreihen nur die brachliegenden, graubraunen Felder, soweit das Auge reicht.

Ich nicke. »Das kann sein.«

Regina hat die Arme noch immer nach irgendetwas ausgestreckt und bewegt die Hände langsam hin und her. Vielleicht stellt sie sich vor, dass sie im Himmel schwimmt.

»Regina hat nur Angst, dass wir das Meer nicht finden«, sag ich, »Sie denkt gar nicht daran, dass sie enttäuscht sein könnte.«

Wir fahren jetzt durchs Nachbardorf. Ich kenne die Häuser hier und die Straße, hier waren wir schon oft. Es ist, als wären wir kein bisschen vorwärts gekommen, seit wir von Zuhause aufgebrochen sind. Doch Regina weiß das natürlich nicht.

»Eigentlich ist meine Schwester ganz mutig«, sage ich nachdenklich. »Aber das ist bloß, weil sie noch ein bisschen dumm ist.«

Der Fahrer lacht so laut, dass Regina aufblickt. Als sie mich sieht, erschrickt sie und kriecht mir entgegen.

»Ja, das gehört vielleicht beides zusammen«, sagt der Fahrer, als Regina mich erreicht hat und meinen Arm ergreift, um sich daran nach vorne zu ziehen.

Ich antworte nicht, Regina umklammert mich und sagt, dass ich nicht weggehen darf.

Ich streichle ihr über die Haare, in denen sich Stroh verfangen hat. »Mach’ ich nicht. Bald sind wir am Meer.«

Regina nickt und hält sich an mir fest.

Natürlich weiß ich, dass wir nie am Meer ankommen werden. Ich weiß nur nicht, wie ich das Regina sagen soll.