Maren Uhle (16)

Totalschaden

Es ist niemand gestorben, es wurde niemand verletzt. Trotzdem weinen, aber ohne Stimme, nur Tränen. Ich zittere, meine Hände haben das Lenkrad noch nicht losgelassen. Durch die Windschutzscheibe sehe ich den Baum, sehe den dicken, dunklen Stamm. Der steht am Rand der schmalen Straße, die durch das Waldstück führt. Da stehen wir jetzt auch.

Er sitzt auf dem Beifahrersitz. Sitzt ganz still, weint nicht, zittert nicht. Kein Wort. Sein Blick scheint sich im kleinen Waldstück vor uns verlaufen zu haben, findet mich auch nicht, als ich seinen Arm berühre.

Mein Tod war dunkelblau und von der Marke VW. Mein Tod war schnell und raste direkt auf uns zu. Ich riss das Lenkrad herum, der Wagen schlitterte, draußen drehte sich die Welt um uns. So kam es mir vor. Der Baum, ein lauter Knall, der Wagen stand.

Der Wagen steht. Totalschaden, aber das spielt keine Rolle. Ist mein Tod also doch nicht dunkelblau lackiert, bin ich doch noch hier. Es ist niemand gestorben, es wurde niemand verletzt und die Zeit läuft wieder normal. Ich spüre, wie mein Brustkorb sich beim Atmen hebt und senkt, wie meine Hände am Lenkrad kalt und verschwitzt sind. Ich habe es geschafft. Ich lebe. Wir leben. Ich weine weiter. Vor Erleichterung. Ich bin.

»Hey«, sage ich, sage es leise. Meine Stimme bricht in das Schweigen.

Er antwortet nicht gleich. Sein Blick bleibt geradeaus gerichtet, seine Fingerkuppen streichen langsam, aber fest über seine Wange. »Totalschaden«, sagt er.

Ja, denke ich, aber das spielt keine Rolle. Meine Hände lassen das Lenkrad los, wischen Tränen weg. Licht bricht durch das Kronendach über uns, fällt durch die Scheiben in den Wagen. Scheint die ganze Luft auszufüllen. Ich atme Licht. Ich möchte lachen, sehe ihn dann aber an, sehe sein starres Gesicht. Und sein Blick irrt noch immer draußen herum.

»Du hast doch keine Schmerzen, oder?«, frage ich.

Er schüttelt den Kopf, schüttelt ihn ein wenig zu heftig.

Ich verstehe nicht, was in ihm vorgeht.

»Dann haben wir Glück gehabt«, sage ich und überlege, ob ich ihn umarmen soll.

Nicht, weil mir danach ist, nur, weil ich Angst habe vor seinem seltsamen Schweigen. Und davor, dass er so weit weg von mir ist.

Er wendet den Kopf, sein Blick hat mich gefunden. Ich kenne ihn nicht. »Glück?«, fragt er leise, »Glück? Verstehst du das denn nicht – wir haben einen Totalschaden!«

Ich weiß darauf nichts zu sagen. Verstehe wirklich nicht. Ich höre seine Stimme, sie hat einen ungewohnten Klang. Ich höre den Vorwurf. Ich höre die Wut. Und verstehe nicht.

»Wäre ich doch besser gefahren. Aus dieser Situation hätte ich mich besser gerettet«, sagt er.

Besser … kostengünstiger, meint er wohl. Ja, Totalschaden, aber wir sind doch noch hier, und das Licht fällt in unser Auto, und wir atmen und reden und sehen das Waldstück vor uns. Ich zittere nicht mehr, ich bin ganz ruhig.

Er nicht mehr. Er überlegt laut die wahrscheinlichen Kosten und nennt Zahlen.

Die sagen mir nichts. Mir sagt die Baumrinde hinter der Windschutzscheibe vor mir etwas und der Polstersitz, den ich unter mir spüre, und mein Atem, der sich beruhigt hat. »Glück gehabt!«, und ich würde gerne lachen, aber weiß, dass er wütend ist, und traue mich nicht.

Ich höre ihm nicht mehr zu. Er redet weiter, redet sich immer weiter von mir weg. So weit, dass ich ihn gar nicht mehr umarmen könnte. Aber mir ist ja auch nicht danach.

Ich lehne mich zurück, schließe die Augen. Er steigert sich in sein Reden hinein. Steigert auch seine Stimme, die immer lauter wird.

»Verdammt«, höre ich ihn sagen.

Meine Hände tasten, lösen den Gurt. Ich öffne die Tür. Meine Füße auf dem Erdboden. Es riecht nach Laub. Ich sehe den Wagen an, die zerbeulte Kühlerhaube. Und lache.