Gregor Krammer (14)

Feuerfell

Wenn ein Baum geschlagen wird und ein neuer aus seinen Wurzeln erwächst, ist es derselbe Baum? – Aber wenn du einen Ast von einem Baum abreißt und dieser Ast wieder nachwächst, ist es dann derselbe Baum?

Selbst wenn du ein Blatt von einem Ast reißt, wird der Baum nicht mehr derselbe sein wie vorher.


Afrika, an einem Ausläufer Adamauas, nahe der Stadt Benin, 15. Jahrhundert, unter Herrschaft von Gottkönig Ozolua

Tief in der Savanne trieb der Wind die Kamele voran und bohrte sich in die Flanken der Berge. Wie zerfurchte Gesichter blickten die Gebirge der glutroten Sonne entgegen, und die letzten Vögel ließen sich von dem warmen Aufwind dicht entlang am Felsen in die Höhe tragen, um heim in ihre Nester zu kommen. Und dort oben auf einem Stein saß Yoraba, und er schaute hinaus über die Steppe. Dort, unter seinem Sitz auf dem Adamaua, lag wie auf einer Landkarte ausgebreitet die weite Ebene seiner Heimat. Am Horizont konnte er Benin erahnen, die Stadt, die von ihren Einwohnern »Die Erhabene« genannt wurde, und unter den letzten Sonnenstrahlen bogen sich die festen, faserigen Blätter der Palmen.

An dem knorrigen Ast, den Yoraba fest umklammert in seiner Linken hielt, baumelte eine ausgewaschene Muschel, die den Wind einfing und ihm klirrende Töne entgegenwarf. Yorabas Gesicht war zerfurcht wie der Berg und das Löwenfell, das er sich über die Schulter geschlagen hatte, wurde vom Wind aufgebläht wie das Segel eines der vielen Boote, die auf den Flüssen auf und ab fuhren und Waren in ferne Länder trugen und hierher brachten.

Yoraba trug eine unverzierte Flöte aus Schilfrohr bei sich, und gerade eben setzte er ab und beobachtete den Untergang der Sonne. Der letzte Ton der Flöte summte noch durch die Kluft, wie wenn der Wind an Flaschenhälsen vorbeistreifte. Töne waren wie Kristall.

Yoraba hatte schon vieles erlebt. Er war den Panthern im Dickicht aufgelauert und hatte Gnus erlegt, hatte Benins Doppelwall und den Palast des heiligen Oba Ozolua gesehen, war im Niger getaucht und hatte die Bronzekunst der Gießer aus Ife erlernt. Doch in seinen Augen lag nicht der Glanz der Zufriedenheit, es spiegelten sich nur die Schattierungen des Alters wider. In seinen Augen suchte man umsonst Glück oder Friede, sein Blick war hart, denn er hatte sich niemals wohl gefühlt, und so schenkte er auch niemandem ein Lächeln.

Denn Yoraba hatte in seinem Leben nie Zeit dafür gefunden, glücklich zu sein, denn er sagte sich, dass er sich erst von seinen Sorgen befreien musste, um glücklich werden zu können wie die vielen anderen Menschen. So verschob er sein Glück auf später, denn er dachte sich, im Alter würden sich seine Sorgen von selbst erledigen. Jetzt, jetzt war später schon vorbei, und es war ein seltsames Gefühl. Die Zeit war an Yoraba vorübergestrichen.

Eine Horde Gnus drängte an dem Fuß des Berges vorbei. Sie suchten einen Platz zum Schlafen, und auch Yoraba hatte seinen Platz gesucht und gefunden. Er richtete sich mithilfe seines Stockes auf und ging hinüber zu seiner Raststätte. Dort lag er auf einem bestickten Tuch und sah hinauf zu den Sternen. Wie damals


Die Gazelle hatte das Laufen verlernt. Sie stand als Opfer am Wasserloch und war bereit, sich reißen zu lassen. Das Feuer in ihren Augen war erloschen. Sie war so tief in das Land gedrungen und hatte nichts gelernt, und es bekümmerte sie. Das Ende ihres Weges schien erreicht. Sie hatte ihren Ruheplatz gefunden. Yoraba hatte seinen Ruheplatz gefunden.


Tief in der Savanne brachte der Wind Schlaf über das Land und schliff die Flanken der Berge. Wie zerfurchte Gesichter blickten die Gebirge dem fahlen Mond entgegen, und die Vögel breiteten ihr Gefieder schützend über ihrer Brut aus. Und dort oben auf dem höchsten Plateau des Adamaua lag Yoraba. Dort, über seinem Schlafplatz standen die Sterne wie leuchtende Augen, die zu ihm herunterblickten. Wenn er seinen Kopf hob und geradewegs nach vorn schaute, konnte er am Horizont die Feuer von Benin sehen, die Stadt, die von ihren Einwohnern »Die Lärmende« genannt wurde, und im Mondschein erhoben sich die ersten Eulen und stießen ihren Ruf in die Nacht.


Das Glitzern der Sterne wurde stärker und verlor seine klare Begrenzung, vermischte sich mit dem Dunkel der Nacht. Yoraba hatte einen letzten Schluck seines feurigen Trunks zu sich genommen, damit die Kälte ihm nichts mehr anhaben könnte. Er wollte in den letzten Momenten nicht daran denken, wie schneidend kalt der Wind war, er wollte an etwas anderes denken. Er wusste nicht an was, aber darüber musste er sich keine Gedanken machen. Es würde ihm noch im rechten Moment einfallen. Er würde nicht gehen ohne einen letzten, befriedigenden Gedanken.


Ach. Yoraba hatte das Glück immer gesucht, und alles, was er gefunden hatte, war eine furchtbare Leere, die ihm zeigte, wie sinnlos seine Suche gewesen war. Das Glück fiel denen zu, die nicht damit rechneten, und denen, die es ihr Leben lang wünschten, wurde es niemals zuteil. Doch Yoraba hatte diesen Umstand nach einer Weile akzeptiert und war unwissentlich selbst leer geworden in seinem Inneren. Wie die Zeit das Nashorn müde macht und sein Horn abnützt, beugte sich Yoraba dem Strom der Gleichgültigkeit, und er ließ das Leben an sich vorbeischreiten.

Wenn er an einem Tag also aufwachte und gleich im Bett bleiben hätte können, weil schon alles gemacht war, was er zu tun gedachte, dann nahm er einen Schemel und setzte sich an das einzige Fenster seiner schattigen Lehmhütte, um hinauszuschauen auf die Hauptstraße seines Dorfes. Er wurde nicht bemerkt dort hinter seinen Mauern, allein das Weiß seiner Augen konnte man in dem Dunkel ausmachen. Die Leute trieben an Yoraba vorbei, ohne ihn zu beachten, sie unterhielten sich, und es kümmerte sie nicht, wenn er ihnen zuhörte. Kaum jemand kannte seinen Namen.

Ja, Yoraba war ganz allein, obwohl er so oft unter den Menschen war. Denn er wurde nicht beachtet, und er war einer dieser vielen, gesichtslosen Personen, die einem am Tage begegnen und die man im nächsten Moment vergessen hat. Wenn ihm aber doch einmal jemand einen Blick schenkte, dann bemerkte Yoraba das nicht. Er war schon zu sehr an das Alleinsein gewöhnt, so dass er nichts anderes mehr kannte, nichts anderes mehr akzeptierte.

Yoraba war anders. Wenn sie vor dem Regen flüchteten, dann saß Yoraba noch in seiner Hütte und starrte durch das Fenster. Der Regen füllte die Risse des trockenen Bodens, und die Kinder sprangen von Pfütze zu Pfütze, und sein Blick ruhte auf der Straße. Aber manchmal beobachtete er die Spielenden, und dabei wurde es ihm warm ums Herz, und nicht nur einmal wäre er am liebsten aufgestanden und auch in eine der Lachen gesprungen, dass das Wasser nur so umhergespritzt wäre. Regen kam selten.

Wenn die Kinder ihn dann aber sahen, dann blieben sie in ihrer Pfütze stehen, tuschelten leise und zerstreuten sich. Und wenn es wieder aufhörte zu regnen, kam die Sonne heraus, und mit ihr die vielen Leute und das geschäftige Treiben. Dann war Yoraba wieder allein, und er starrte weiter aus dem Fenster, während der Tag seiner Bahn folgte. Erst, wenn ihm die letzten Strahlen der verglühenden Sonne ins Gesicht blendeten, rappelte er sich auf und legte sich in sein Bett, um zu schlafen. Yoraba träumte nicht. Yoraba hatte es nie gelernt, zu träumen.

Manchmal regnete es, wenn Yoraba schlief. Der Regen war warm.


Doch jetzt, jetzt lag Yoraba unter dem freien Sternenhimmel, und seine Gedanken flogen mit dem Wind. Er war nicht oft in Benin gewesen, und für ihn war es eine Stadt wie jede andere, eine Stadt voller Leben, voller Leben, das von den Furchen des Alltags unterteilt war wie ein frisch bestelltes Feld. Niemand bemühte sich um einen Pflug, und so verdorrten die immergleichen Früchte auf den immergleichen Feldern. Yorabas Leben war ebenfalls eine Pflanze auf diesem Feld, doch er wusste Bescheid darüber. Viele hingen am Acker fest und glaubten, durch die Steppen ziehen zu können. Yoraba hatte sein Schicksal nicht gewollt, doch er hatte gelernt, mit ihm zu leben. Schicksale waren stärker als jeder Wille, also bemühte sich Yoraba nicht, sich gegen sie zu stemmen.

So machte es Yoraba bald nichts mehr aus, eine vergorene Frucht zu sein, zumindest kümmerte es ihn nicht. Doch, es machte ihm etwas aus, aber er hatte sich abgefunden, dass er nicht in der Blüte seiner Jahre geerntet werden würde, sondern dort stehen blieb auf dem Feld, bis er welkes Gestrüpp geworden war.


Ah, die Nacht kam doch noch, und Kälte kroch in Yorabas Fingerspitzen, wie eine Made, die sich endlich durch den harten Fettrand des Specks durchgefressen hatte und sich jetzt am weichen Fleisch gütlich tat. Yoraba richtete sich auf und streckte sich, schüttelte für einen Moment das Alter ab. Das Alter war grau. Für einen Moment wurde Yoraba wieder wachgerüttelt, und er fragte sich, ob sich das Alter ausgesucht hatte, welche Farbe es hatte. Oder ob es immer grau gewesen war, ohne etwas dagegen machen zu können. Doch er suchte keine Antwort. Antworten sind schwer zu finden, und oft befriedigen sie einen nicht. Yoraba hatte aufgehört, Fragen zu stellen, damit er keine Antworten mehr suchen musste.

Sein Trinkschlauch lag in Yorabas Reichweite und gleich daneben noch ein sorgfältig zusammengefaltetes Laken. Nichts hatte er zurückgelassen in seinem Dorf, nichts bis auf einige Vasen und Töpfe. Schon morgen würden sich die Frauen darum streiten, das wusste Yoraba. Er trank den letzten Schluck und wollte den Schlauch hinabwerfen, doch er blieb liegen am Rande der Klippe. Yoraba schnupfte und schüttelte sich, als der scharfe Tropfen seine Kehle hinunterging. Die Kojoten lullten ihn ein, und es schien ihm, als ob sich ein trauriger Gesang an dem Felsengrat brach. Er warf die Decke über sich, er wollte gewärmt werden. Er räkelte sich nicht oder lümmelte sich ein, wie es die anderen Leute taten, wenn sie sich schlafen legten. Er schlief einfach, und nie überkam ihn eine dieser matten, angenehm kribbelnden Müdigkeiten, nein, bei ihm folgte der Schlaf auf das Wachsein. Doch noch dachte er, und wenn er dachte, blieb er wach.


Ike hatte gesagt, dass er dem Lauf der Antilopen folgen würde, wenn die Zeit dafür reif war. Yoraba kannte Ike nicht, doch Ike kannte Yoraba. Viele Menschen kannten Yoraba. Man musste ihm nur einmal begegnen, und man konnte aus ihm lesen wie aus einer frischen Tierfährte, doch niemand verstand ihn, als wäre seine Fährte so fremd, dass man nicht einmal erkennen konnte, in welche Richtung sie verlief.

Doch Ike wusste über Yoraba Bescheid. Ike war viel jünger als er, und es gab immer wieder jemanden, der etwas von ihm wollte. Ike war sehr begabt – in allem, was Yoraba gerade in den Sinn kam – und verstand sich aufs Reparieren, konnte jeden Streit schlichten und Probleme lösen. Aber diese Dinge tat er nur, um zu helfen, er liebte sie nicht; er liebte es, durch das Land zu streifen, völlig ungebunden. Er hatte Yoraba einmal erzählt, wie wunderbar es sei, den Puls der Erde in sich zu tragen, und dass sich der Himmel um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Der alte Mann hatte ihn nicht verstanden, aber Ike hatte ihn zum Lächeln gebracht mit seinen Geschichten und seinen Gedanken.

Ike redete mit dem Wind. Das wusste Yoraba noch. Es war ein gutes Gefühl, etwas noch zu wissen. Sich zu erinnern an etwas, das erinnernswert war. Die meisten Erinnerungen sind verblasst und verknittern, aber manche von ihnen halten sich frisch. Und manche, die wandern von Ort zu Ort, die kommen nur manchmal vorbei, und dann kriegt man sie nicht mehr aus dem Kopf. Yoraba mochte die Wanderer am liebsten. Wanderer sind einsam.

Ike war den Antilopen gefolgt und verschwunden.


Damals war die Gazelle in die Knie gegangen, doch nicht aus Erschöpfung. Es verblüffte sie der Gedanke, dass man alles tun konnte, wenn man es nur wollte, denn sie hatte bisher gedacht, ihr Leben sei in einen engen Rahmen gepresst, aus dem es fast nie ein Entrinnen gab. Doch es schien ganz anders.


Aber dieser ungestüme Gedanke wurde bald zerrieben von dem stetig mahlenden Mühlstein des Alltags, und Yorabas einziger Ausweg war die Flucht in die Berge. Dort fühlte er sich abgeschirmt von der Welt, und es war auch ein gutes Gefühl, dem Treibsand, der einen immer mit sich trug, für eine Weile entronnen zu sein. Einmal, einmal hatte Yoraba hinauf zu den Sternen geblickt und ein Lied gesungen, das er selbst nicht kannte. Die Vögel waren aufgestoben aus ihren Nestern an den Felsenriffen, und Yoraba hatte einen großen Schwarm davonfliegen sehen, zur Sonne hin und wahrscheinlich viel weiter.

Damals fühlte er sich unbekümmert; doch in einer Weise, die dem Leben einen Sinn gibt und die Regeln abstreift. Er hatte keine Erklärungen mehr für seine Handlungen gesucht, er hatte einfach gehandelt. Yoraba war ein gebeugter Mann gewesen, von Kindesbeinen an, doch er hatte wenige Momente gehabt, in denen er frei war wie ein Vogel, der sich nur niederlässt, weil er schon nach einer neuen Bleibe Ausschau hält. All sein Wissen, das er gehabt hatte, streifte er ab und ließ es liegen, hielt nichts mehr darauf, war unbekümmert. War frei.


Die Gazelle hatte ihren Mut gefunden. Sie stand an dem Wasserloch und trank in gierigen Zügen, und es bekümmerte sie nicht, dass ihr langer Weg bisher umsonst gewesen war. Sie hatte noch einen weiten Weg vor sich. Das Feuer in ihren Augen loderte hell und begeistert.


Aus Yorabas Augen wich jetzt ein Teil dieser Härte, und seine Mundwinkel zuckten leicht. Ihm war zum rechten Moment eingefallen, an was er in den letzten Augenblicken denken sollte, und er strengte sich an, seine Gedanken in klare Sätze zu fassen.

Irgendwo da draußen war ein Fluss, und er floss durch sie alle, und Yoraba war verbunden mit den Menschen aus seinem Dorf, und mit Ike, und mit dem Kind, das weinend davongelaufen war, als Yoraba ihm seinen Ball gereicht hatte, er war verbunden mit den Tieren, den Vögeln, die zum Horizont zogen, mit den Löwen, die ihren eigenen Weg nicht kannten, und mit den Zebras, die den Büschen die letzten Blätter abrissen. Er hatte gelernt, sich nur noch diesem Fluss hinzugeben, und er war geerntet worden von dem Feld der vergorenen Früchte. Er hatte gelernt in seinem Leben, er hatte gelernt, dem zu entfliehen, das ihn so lange in seinen Fängen gehalten hatte. Er hatte gelernt, sich diesem Fluss hinzugeben, der durch sie alle floss, und er war ein Teil des Lebens geworden und war aus dem Kreislauf der Zeit ausgebrochen, um seinen eigenen Weg zu gehen, zwar im Verborgenen, doch immer auf dem Marsch.

Hätte Yoraba lächeln können, er hätte es jetzt getan ob dieser Erkenntnis. Er hatte doch gelebt. Er hatte gelebt!


Tief in der Savanne ruhte der Wind und bekämpfte den Berg nicht mehr. Zerfurchte, aber zufriedene Gesichter blickten der Sonne entgegen, die einen ersten, verirrten Strahl über das Land warf, und die ersten Vögel regten sich in ihren Nestern. Und dort oben lag Yoraba, und er hatte die Augen geschlossen. Dort, in seinem Herzen, hatte sich etwas gelöst, was ihn die ganze Zeit gefangen hielt. Am Horizont wachte Benin auf, die Stadt, die von ihren Einwohnern »Die Glückliche« genannt wurde, und mit den ersten Sonnenstrahlen legte sich Yoraba zur Ruhe.


Und sein letzter Gedanke war, dass er auch das Lächeln noch gelernt hätte.