Lisa Heidinger (16)

Genial!

Er wischt seine vom Schweiß feuchten Hände an der Hose ab, damit er die zartrote Oberfläche des Buches nicht beschmutzt. Er mag den Umschlag. Der ist ganz schlicht gehalten, ohne Bild, nur in diesem Rotton, mit klaren, schwarzen Lettern bedruckt. Er findet, dass das erwachsen wirkt.

Gierig lässt er seinen Blick immer und immer wieder über den Titel des Werkes laufen, und ihm ist klar, dass er gefunden hat, wonach er suchte.

»Selbst gefühlt« steht da. Und darunter etwas kleiner: »Anleitung zum Verfassen von Lyrik«.

Er dreht das schmale Büchlein um und liest. Hier findet er keinen Klappentext, wie es sonst bei Büchern üblich ist, es werden aber mehrere Menschen zitiert, die das Buch loben.

»Genial!«, steht ganz oben, und daneben der Name »Mike Peters«.


Er verzieht den Mund und kaut auf seiner Unterlippe herum.

»Genial«, denkt er, »klingt gut. Aber es sagt nicht viel über das Buch aus.«

Und auch der Name des Zitierten erscheint ihm nicht ganz seriös. Da ist der nächste Name schon eher ansprechend. Johann Brunner meint zu dem Büchlein: »Wenn es dieses Buch doch zu meiner Zeit gegeben hätte! Dann wäre ich viel eher da angelangt, wo ich heute bin.«

Er fragt sich, wo Johann Brunner heute wohl angelangt ist, denn dieser Name sagt ihm überhaupt nichts. Aber er beschließt, dass er Johann Brunner vertrauen will. Er will darauf vertrauen, dass ihn dieses Buch in Kürze dorthin bringen wird, wo Johann Brunner heute steht.


Begierig schlägt er dann die erste Seite des Büchleins auf, überblättert ein paar Seiten, auf denen nur Details über den Verlag stehen, das Grußwort der Autoren und landet schließlich dort, wo er hinwollte.

Mit dem Zeigefinger fährt er langsam die aufgeschlüsselten Unterthemen entlang und sucht nach der richtigen Sparte.

Zwischen den Punkten »Wie finde ich meinen Stil« und den »Verlegeradressen« findet er schließlich etwas Ansprechendes: »Die wichtigsten Grundzutaten der Lyrik für den Schnellstart«.

Hastig blättert er vorwärts, kümmert sich jetzt nicht mehr darum, dass seine Fingerspitzen feuchte Abdrücke auf dem Papier hinterlassen. Dann hat er die richtige Seite aufgeschlagen.


»Die wichtigsten Grundzutaten der Lyrik für den Schnellstart« steht da groß. Und darunter: »Die 3 großen Regeln der Lyrik«.

Wieder wischt er seine Hände an der Hose ab und liest weiter.

»Leider können wir Ihnen keine Anleitung für Ihr perfektes Gedicht liefern. Nur Sie können Ihren individuellen Stil finden und müssen diesen auch für sich selbst entdecken.«

Er nickt langsam. Er weiß nicht, was das Wort »individuell« bedeutet, aber es klingt nicht schlecht, und den Rest des Satzes findet er einleuchtend.


»Aber«, liest er weiter, »wir können Ihnen die Zutaten für den perfekten Teig offenbaren!«

Er stutzt, er ist verwirrt. »Was für ein Teig?«, denkt er. Dann begreift er, dass das bildlich gemeint sein könnte. Er grinst bei dem Gedanken, dass Gedichte aus Teig bestehen, und liest weiter.

»Regel Nr. 1: Verlieren Sie die Scheu vor dem leeren Blatt! Schreiben Sie einfach drauflos!«

Er liest den Absatz noch einmal.

»Scheu vor dem leeren Blatt?«, denkt er. Ihm fällt unweigerlich seine Katze ein, die wasserscheu ist. Aber wie kann man Scheu vor einem leeren Blatt haben?

Aber er weiß, dass er es nur mithilfe dieses Buches schaffen wird, ein richtiges Gedicht zu verfassen, darum wird er den Rat befolgen.

Seufzend schlägt er ein neues Blatt seines Notizblocks auf und starrt die Seite an. Tatsächlich fühlt er sich ein wenig mulmig, von dem Weiß des Blattes eingeschüchtert, das seine Augen zu blenden versucht. Er hebt seinen Füller, nimmt die Kappe ab und will ihn auf das Blatt drücken. Irgendetwas in ihm sträubt sich, das makellose Weiß zu verunreinigen. Er zögert, dann schließt er die Augen und presst die Feder auf das Blatt. Blind lässt er seine Hand gleiten und wirft Worte als fahrige Kringel und Striche auf die Seite.

Er atmet keuchend aus und öffnet die Augen, betrachtet stolz die auf das Papier geschleuderten Buchstaben. Er hat die Scheu vor dem leeren Blatt überwunden.


»Regel Nr. 2: Suchen Sie sich einen Ort zum Schreiben, an dem Sie sich voll konzentrieren können, um, ohne von äußeren Einflüssen gestört zu werden, den Wortfluss in Ihrem Kopf zu Papier bringen zu können.«

Als er das liest, fühlt er plötzlich, dass sich etwas in seinem Kopf regt, und er erkennt, dass es sich dabei um den Wortfluss handeln muss, der gegen seine Schädeldecke pocht und sie zu durchbrechen versucht, um sich endlich auf ein Stück Papier ergießen zu können.

Eilig springt er auf, mit Buch, Papier und Füller unterm Arm, um den optimalen Ort zum Schreiben zu finden.

In der Küche ist es aussichtslos, das ist ihm klar. Überall arbeitet irgendein Gerät, der Geschirrspüler, die Mikrowelle … Er hat das Gefühl, dass der Wortfluss beim Durchbrechen seines Schädelknochens Fortschritte macht, und beeilt sich, einen bestmöglichen Arbeitsplatz zu finden.

Er stolpert an seiner Mutter vorbei, die ihm irgendetwas nachruft, ihr Gesicht erscheint ihm im Vorbeilaufen verzerrt, er stürzt in die Toilette, knallt die Tür zu und verriegelt sie, sodass ihn in der fensterlosen Kammer nur noch Dunkelheit umgibt.

Keuchend lässt er sich auf die Klobrille fallen, die Worte in seinem Kopf toben und brüllen. Hastig schlägt er das Lyrikbuch auf, reißt die Kappe von der Feder und liest mit haltlosen Augen, die unruhig über die Buchstaben schwirren, die letzte Regel im Lyrikbuch.

Er stockt, der Druck der Worte in seinem Kopf lässt nach, nur dieser eine Satz flimmert in seinem Gesichtsfeld.

Und er liest ihn immer und immer wieder, glaubt nicht, was er da sieht, kann den Sinn des Satzes nicht begreifen.

»Regel Nr. 3: Das Wichtigste, das wirklich Allerwichtigste beim Verfassen von Lyrik ist, dass Sie immer Ihr ganzes Herz und ihre Seele in Ihr Werk legen. Dann kann so gut wie nichts mehr schief gehen!«


»Herz und Seele in mein Werk legen, um den perfekten Teig zu kriegen«, denkt er.

»Und wenn ich das dann getan habe, und meinen Lyrikteig erhalten habe, was wird denn dann aus mir, wenn mein Herz und meine Seele in dem Gedicht stecken?«


Er liest den Satz noch einmal, dann schnaubt er enttäuscht und lässt das Buch in die Toilette fallen. Ein derart großes Opfer kann er nicht bringen. Er zieht die Spülung und verlässt die Dunkelheit seines optimalen Arbeitsplatzes, während die »Anleitung zum Verfassen von Lyrik« langsam im Wasser zu zerfallen beginnt.