Sabine Schönfellner (17)

Die Geräusche der Stille

Montag

Paul geht in meine Parallelklasse. Jemand hat das Gerücht aufgebracht, dass er etwas von mir will. Er hat mich angerufen und gefragt, ob ich nicht vorbeikommen will. Ob das bedeutet, dass das Gerücht stimmt, bleibt abzuwarten.

Ich stehe im Vorgarten des imposanten Hauses, das Pauls Eltern gehört, und sehe auf die ordentlichen Rosenbeete. Das Haus sieht aus, als wäre es aus dem vorigen Jahrhundert, oder aus dem vorvorigen, mit Seitenflügeln, hohen Fenstern und beeindruckender Fassade.

Paul öffnet die Tür, als ich näher komme. Sagt kein Wort, öffnet nur die Tür und bleibt im Türrahmen stehen. Ich sehe ihn an, im Gegenlicht kann ich sein Gesicht kaum erkennen.

Er geht auf mich zu, lächelt schüchtern. Streckt mir die Hand entgegen, während er sich mit der anderen Hand durch die Haare fährt. Eine Verlegenheitsgeste.

Ich schüttle seine Hand, noch hat keiner von uns ein Wort gesagt.

»Willst du nicht reinkommen?«, fragt er endlich.

Ich nicke, auch verlegen.

Paul hält mir die Tür auf und schließt sie hinter mir. Der Vorraum ist nicht sehr groß, aber ziemlich hoch, neben der Garderobe führt eine Wendeltreppe nach oben, ein Gang zu weiteren Zimmern im Erdgeschoss. Es ist düster in dem Vorraum. Und es ist kühl, zu kühl für Anfang August. Wegen der dicken Wände, nehme ich an.

Abwartend sehe ich Paul an, der neben mir steht, einen Kopf größer. Schweigend geht er voran, den Gang entlang, biegt zweimal nach rechts ab.

»Ziemlich großes Haus«, sage ich.

Er zuckt mit den Schultern und bleibt im Wohnzimmer neben dem Sofa stehen, die Hände in den Hosentaschen: »Von meinen Großeltern.«

Dunkle, alte Kästen, die sehr viel Platz einnehmen, stehen an den Wänden und reichen bis knapp unter die Decke, dazwischen ein großer Fernseher. Ich sehe mich vorsichtig um, Paul scheint sich nicht darum zu kümmern. Nirgends sind Bilder oder Familienfotos zu sehen. Ich überlege, ob er Geschwister hat. Seine Schwester geht in unsere Schule, fällt mir ein. Dritte oder vierte Klasse, drei oder zwei Klassen unter uns.

»Gehen wir nach oben?«, fragt Paul.

Ich zucke mit den Schultern, er verlässt das Wohnzimmer wieder, geht zurück in das Vorzimmer.

»Warum waren wir im Wohnzimmer?«, frage ich.

Paul bleibt stehen, dreht sich zu mir um und schüttelt den Kopf: »Nur so.«

Er schüttelt noch einmal den Kopf, setzt sich auf die Treppe. Ich wundere mich über sein konfuses Handeln und frage mich, ob ich mich neben ihn setzen soll, er hebt den Kopf und horcht. Auch ich horche, höre Stimmen, ungefähr aus der Richtung des Wohnzimmers. Zwei Stimmen.

»Soll ich vielleicht … deinen Eltern ,Guten Tag sagen oder so?«

»Meine Eltern?«, er sieht mich lange an, »Meine Eltern sind nicht zu Hause.«

Ich horche wieder, diesmal keine Stimmen. »Ich hab da aber gerade jemanden reden gehört.«

»Ja?« Er lächelt mich amüsiert an. »Meine Eltern waren das bestimmt nicht, die sind nicht zu Hause.«

Ich frage nicht weiter, sein Lächeln hält mich davon ab.

Paul steht auf und nimmt mich an der Hand: »Gehen wir nach oben.«

Ich achte nicht sehr genau darauf, wohin wir gehen, konzentriere mich eher auf Pauls Hand.

Wir bleiben in einem schmalen, engen Gang stehen, vor uns zwei Türen. Ein paar Schritte weiter eine Treppe, die nach oben führt.

»Ein Labyrinth«, sage ich, Paul nickt und deutet aus dem Fenster. Ich sehe unter uns den Garten hinter dem Haus, sehr weitläufig, noch mehr Rosenbeete. Alte Bäume und ein Springbrunnen.

Paul zieht mich weiter, sehr bestimmt, die Treppe hoch, Gänge, Zimmertüren, verschlossen, ich habe die Orientierung verloren. Aber meine Orientierung war noch nie besonders gut. Wir sehen wieder aus dem Fenster, diesmal auf die Straße hinaus.

Langsam frage ich mich, was ich hier mache. »Zu wievielt wohnt ihr hier?«

»Nur meine Familie«, sagt er.

Nicht direkt eine Antwort, ich überlege, ob er außer seiner Schwester noch andere Geschwister hat. Kann mich nicht erinnern. Platz genug wäre für eine Großfamilie, doch es ist nichts zu hören, keine Stimmen, kein Fernseher, kein Radio, kein Wasserrauschen. Die Gänge sind sehr sauber gehalten, wirken kahl und steril, nirgends sind Bilder oder Fotos aufgehängt.

Er tritt ans Fenster und sieht nach draußen. Unter uns werden Schritte hörbar, jemand geht auf und ab. Paul tritt vom Fenster zurück, sieht sich einen Moment unsicher um, nimmt mich wieder an der Hand. Ohne ein Wort zieht er mich mit, diesmal eine Treppe hinunter, um die Ecke. Er lauscht, öffnet eine Zimmertür. Ich bleibe stehen, er lässt meine Hand los, ich sehe ihn an, verwundert und ein wenig ärgerlich.

»Warum?«, frage ich, er antwortet nicht, sieht mich bittend an. Überrascht weiche ich seinem Blick aus, betrete hinter ihm das Zimmer, er schließt die Tür.

Neben der Tür steht ein Kasten, gegenüber ein Bett, wahrscheinlich seines. Durch das Fenster sehe ich, dass es draußen langsam dunkel wird. Ich denke daran, dass ich heimgehen sollte, trete ans Fenster, von hier aus sieht man den Garten, allerdings nur einen kleinen Ausschnitt, ein vorspringender Gebäudeteil versperrt die Sicht. Warum gehe ich nicht, was habe ich davon, wenn ich bleibe? Er steht schweigend hinter mir, ich drehe mich zu ihm um, traue mich nicht, ihn auf sein Schweigen ansprechen.

»Wie geht es deiner Schwester?«

»Sophie?«, fragt er nach und zuckt mit den Schultern.

»Ist sie hier?«

»Keine Ahnung. Vielleicht ist sie unterwegs oder …« Ich warte darauf, dass er weiterspricht. Er tut es nicht.

»Ich sollte dann wohl heimgehen …«, sage ich langsam.

Er verzieht das Gesicht, geht zum Schreibtisch, der neben dem Kasten am Fenster steht. »Bleib doch noch«, sagt er und schaltet den CD-Player auf dem Schreibtisch ein.

Ich wüsste nicht, wozu, verschränke die Hände, trete einen Schritt zurück und setze mich auf das Fensterbrett.

Paul sieht mich bittend an, sucht Blickkontakt, sagt verlegen: »Bitte.«

Ich zucke mit den Schultern, die Situation ist mir unangenehm.

Sein Blick wird noch bittender, er scheint zu fürchten, dass ich gehe. Er wendet sich ab, geht zu seinem Bett und legt sich rücklings auf den Teppich davor, starrt an die Zimmerdecke, scheint nicht auf die Musik zu achten, die aus dem CD-Player kommt.

Ich könnte gehen, denke ich, und sehe auf Paul, der sich nicht bewegt, werde das Gefühl nicht los, dass ich etwas verpassen könnte, eine Chance vielleicht, wenn ich jetzt nach Hause gehe. Langsam und schleichend gehe ich zu ihm, lege mich neben ihn. Ich sehe ebenfalls an die Decke, als ich zur Seite schiele, lächelt er. Er dreht sich auf die Seite, legt den Kopf auf den Arm, betrachtet mich. Ich sehe wieder nach oben und höre auf die leise Musik, das langsame Schlagzeugspiel, eine angenehme Stimme.

»Kennst du’s?«, fragt Paul.

Ich schüttle den Kopf und schließe die Augen. Das Schlagzeug wird leiser, die Stimme tritt in den Vordergrund. Paul rutscht ein kleines Stück näher, ich öffne die Augen einen Spalt. Von außerhalb des Zimmers, vom Gang her oder aus einem Nebenzimmer, höre ich mit einem Mal Gitarrenspiel, einzelne Töne, ganz leise. Konzentriert horche ich, glaube eine Stimme zu hören, bin mir nicht sicher. Ist es eine Aufnahme oder singt da draußen jemand? Ich kenne den Song, von der Melodie her, aber er ist zu leise, ich kann keinen Text verstehen.

»Was ist das für Musik?«

Paul zuckt bei meiner Frage zusammen, rutscht weg und steht auf. »Musik? Welche Musik?« Hastig geht er zum CD-Player und dreht ihn ab. »Da ist keine Musik.«

Ich horche wieder, denke, dass die Musik sich langsam entfernt. Melancholische und nachdenkliche Gitarrenakkorde, die leiser werden.

»Du hörst nichts?«

Er reagiert nicht, geht zum Bett hinüber und setzt sich auf die Bettdecke. Mir fällt auf, wie dunkel es geworden ist, ich kann seine Gesichtszüge nur noch erahnen.

Ich richte den Kopf auf: »Sicher nicht?« Ich suche sein Gesicht ab, will wissen, warum er abermals behauptet, etwas nicht zu hören, dass ich schon höre. Habe ich mich getäuscht?

Er schüttelt den Kopf, sieht mich an und sagt: »Bitte.«

Ich stehe auf und gehe zu ihm.

Dienstag

Ich wache auf, ein Schatten fällt auf mich. Jemand steht vor dem Bett und sieht auf mich herab. Und auf Paul, der im Schlaf einen Arm um mich gelegt hat. Deutlich spüre ich seine Hand am Oberarm. Ich sehe hoch, erkenne Sophie, Pauls Schwester. Sophie sieht ihren Bruder abwartend an.

»Was ist?«, flüstert Paul.

»Unsere Eltern suchen dich«, sagt Sophie laut.

»Na und?« Paul zieht seine Hand sehr langsam zurück, ein wenig bedauernd, er setzt sich auf und streckt sich, die Decke rutscht ihm von der Schulter, ich bleibe liegen, ihm den Rücken zugewandt.

»Sie suchen dich«, wiederholt Sophie.

»Ich weiß«, sagt Paul.

Sophie sieht ihren Bruder zweifelnd an, geht zur Tür, dreht sich noch einmal um und öffnet den Mund, um zu sprechen.

Paul sagt unwirsch: »Sie suchen mich, ich weiß.«

Sophie schüttelt den Kopf: »Sie glauben, dass du nicht alleine bist.« Er antwortet nicht, sie geht und schließt die Tür leise hinter sich.

Ich sehe ihr nach: »Willst du nicht zu deinen Eltern gehen, wenn sie dich suchen?«

Paul steigt über mich hinweg und sagt zu sich selbst: »Ich muss in Zukunft die Tür abschließen.«

»Was ist mit deinen Eltern?«, frage ich.

Er sieht mich nachdenklich an, schüttelt den Kopf und öffnet eine Schreibtischlade, holt eine Packung Müsliriegel und zwei Äpfel heraus, unter dem Schreibtisch zieht er eine Wasserflasche hervor.

Ich fange an, mich über sein Verhalten zu ärgern, will er etwas vor mir geheim halten? Ich rutsche vom Bett. Er setzt sich mir gegenüber, reicht mir einen Müsliriegel und einen Apfel. Wir essen schweigend, er gibt mir die Wasserflasche. Im Wasser ist keine Kohlensäure, es schmeckt wie Leitungswasser.

Paul steht auf und geht zur Tür. Vorsichtig öffnet er die Tür, lugt nach draußen und winkt mich zu sich. Ich gehe zu ihm, er legt mir die Hand auf die Schulter und sagt: »Warum sollte ich zu ihnen gehen?«

Ich weiß keine Antwort.

Er tritt auf den Gang, ich werfe einen Blick zurück, die Wasserflasche steht noch auf dem Teppich, daneben liegt die halb leere Packung Müsliriegel. Paul zieht mich drängend auf den Gang hinaus und schließt die Tür hinter mir. Er geht voraus, den Gang hinunter, zwei Türen weiter. »Badezimmer«, sagt er, öffnet die Tür und deutet mir, einzutreten.

Ich gehe hinein, er schließt die Tür hinter mir. Einen Moment betrachte ich die Badewanne, die Dusche, das Klo und das Waschbecken, alles auf engstem Raum zusammengedrängt. Ich benutze das Klo und spritze mir am Waschbecken Wasser ins Gesicht. Mein Spiegelbild ist bleich. Unausgeschlafen. Ich sollte eigentlich heimgehen, fällt mir ein.

Vor der Tür wartet Paul auf mich, ganz gelassen. Bevor er die Tür hinter sich schließt, sieht er den Gang hinauf und hinunter. Ich setze mich auf den Teppichboden und lehne mich an die Wand. Aus dem Badezimmer höre ich Wasser rauschen, unter mir Schritte. Geht Sophie auf und ab? Oder sein Vater? Seine Mutter?

Paul tritt wieder auf den Gang, seine Haare sind nass, er hat geduscht. Schweigend setzt er sich neben mich, lehnt ebenfalls den Kopf an die Wand. Er beachtet mich nicht, sieht starr gerade aus, in Gedanken versunken. Ich komme mir sehr überflüssig vor.

Auf einmal höre ich Musik, dieselbe wie gestern, sie scheint von unten zu kommen, wieder ist sie zu leise, um sie genau zu verstehen. Sie scheint näher zu kommen, wird lauter, ich erkenne, dass es sich nicht um einen, sondern um zwei Sänger handelt. Es ist offensichtlich eine Aufnahme, ich höre ein leises Schlagzeugspiel, bin mir aber nicht sicher. In dem stillen und düsteren Gang wird der melancholische Klang des Liedes noch verstärkt.

»Was ist das für Musik?«, frage ich.

Paul hebt den Zeigefinger zu den Lippen. Er steht auf, fährt sich mit einer selbstbewussten Geste durch die Haare, nimmt meine Hand und zieht mich in die Höhe. Wir gehen ein Stück den Gang hinunter, er öffnet eine Tür und zieht mich hastig in den Raum, ich höre hinter uns Schritte, die näher kommen. Er stellt sich neben der Tür an die Wand, mit dem Rücken zur Wand, zieht mich neben sich, schweigend horchen wir beide, die Schritte kommen näher und entfernen sich wieder. Ich sehe mich in dem Raum um, viele alte Möbel, wahllos aufgestellt. »Simon & Garfunkel«, flüstert Paul an meinem Ohr, »The Sounds of Silence.« Dann lässt er meine Hand los, hebt den Kopf, lauscht und öffnet die Tür. Wir treten wieder auf den Gang.

Vorbei an seinem Zimmer, ein Stück die Treppe hinauf, Paul setzt sich nieder. Auf der Treppe ist es düster. Ich setze mich neben ihn, auf der schmalen Stufe sitzen wir Hüfte an Hüfte, ich rutsche an die Wand, lehne mich mit dem Rücken an. Paul kramt in seiner Hosentasche.

»Du weißt, was das ist?«, fragt er und zieht etwas aus der Tasche.

Ich sehe den Joint und nicke.

Er holt ein Feuerzeug hervor, zündet den Joint an und nimmt einen Zug. »Hast du schon mal?«, fragt er, und ich schüttle den Kopf. »Nicht zu schnell«, sagt er, »und wenn du eingeatmet hast, nicht die Luft anhalten, sondern den Mund öffnen. Ist schwer zu erklären.« Er gibt mir den Joint, ich sehe ihn mir genau an, bevor ich zu rauchen beginne.

»War das Lieblingslied von meinem Großvater«, sagt Paul ruhig, »dem Vater von meinem Vater. Er hat nicht viel von Popmusik gehalten, aber das hat er sich angehört. Immer wieder. War fast süchtig danach.« Er nimmt den Joint zurück, betrachtete ihn nachdenklich: »Vor zwei Wochen ist er gestorben.«

Mir fällt nicht ein, was ich darauf erwidern könnte, ich nehme noch einen Zug. Schweigend rauchen wir, mir wird leicht schwindlig, aber das kann auch Einbildung sein.

Paul sieht mich fragend an, ich zucke mit den Schultern, ein Lächeln taucht in seinem Mundwinkel auf. Ich höre wieder die Musik, von unten, sie wird lauter, zieht durch das Haus. Mir fällt auf, wie still es ist.

»Wer spielt den Song ab?«, frage ich.

Paul schüttelt den Kopf und legt mir den Zeigefinger auf die Lippen. Ich verstehe einzelne Textzeilen: »In restless dreams I walked alone … narrow streets of cobblestone …« Die Musik wird leiser, die Worte unverständlich, ich erahne nur noch: »People talking without speaking …«

Mittwoch

Das Wasser ist kalt, ich stehe unter der Dusche. Meine Eltern wundern sich vielleicht, wo ich bin, aber die sind auf Urlaub. Schon seit ein paar Tagen und noch ein paar Tage. Kein triftiger Grund vorhanden, warum ich unbedingt heim müsste.

Paul wartet vor dem Badezimmer, ich beeile mich, will ihn nicht warten lassen. Rasch schlüpfe ich wieder in meine Kleidungsstücke, trockne meine Haare mit einem Handtuch ab und kämme sie mit den Fingern kurz durch. Das Handtuch hänge ich über den Heizkörper, der so kalt ist wie das Wasser.

Paul sitzt am Boden, die Augen geschlossen. Von unten dringt leise Gitarrenmusik herauf. »Wer spielt den Song?«, frage ich.

Paul öffnet die Augen und schüttelt den Kopf.

Als unter uns Schritte zu hören sind, springt Paul auf, nimmt mich an der Hand und zieht mich mit sich. Wir gehen die Treppe nach oben, einmal um die Ecke, Paul bemüht sich, möglichst keine Geräusche zu verursachen.

»Wir flüchten vor deinen Eltern«, sage ich und bleibe stehen.

Er lässt meine Hand los und tritt einen Schritt zur Seite. »Sie mögen meine Freunde nicht, schon deshalb nicht, weil sie meine Freunde sind.« Eine halbherzige Ausrede, er sieht die Wand an und nicht mich, als er sie ausspricht.

Ich glaube nicht, dass er sich um die Meinung seiner Eltern sehr kümmert.

Plötzlich geht hinter uns eine Tür auf, wir zucken beide zusammen. Ich drehe mich um, eine alte Frau sieht auf den Gang heraus, hält sich mit einer Hand am Türstock fest und kneift die Augen zusammen: »Wer spielt schon wieder dieses Lied, Thomas?«

Paul sieht sie gleichgültig an: »Niemand.«

Die alte Frau dreht sich um und geht in das Zimmer zurück, lässt die Tür offen stehen.

Paul tritt zu mir, legt mir den Arm um die Schulter und flüstert: »Mein Vater heißt Thomas. Sie weiß meistens nur noch, dass sie in ihrem Haus ist und denkt daher offenbar, dass ich Thomas bin.« Er zieht seinen Arm zurück und betritt das Zimmer, ich gehe hinter ihm her. Es handelt sich um das Schlafzimmer der alten Frau, vollgestellt mit alten Möbeln, Zierfiguren auf Regalen. Das Bett ist ein Doppelbett.

Die alte Frau steht an der Kommode und sieht Paul fragend an, mich scheint sie nicht zu bemerken.

»Brauchst du Medikamente?«, sagt Paul halbherzig.

»Nein«, antwortet die alte Frau und nickt. Auf der Kommode stehen Medikamentenschachteln und Gläser voller Tabletten, davor liegen einige Beipackzettel. Die alte Frau nimmt mit zittrigen Händen einige Tabletten aus den Gläsern und schluckt sie mit einem Schluck Wasser. »Die Medikamente gehen aus, hol mir Neue«, sagt sie.

Paul schüttelt den Kopf: »Du hast noch mehr als genug. Und du weißt ohnehin nicht, was du da nimmst.«

»Nein, die Medikamente gehen aus. Wer spielt dieses Lied?«

»Simon & Garfunkel, Oma.«

Sie zögert einen Moment: »Wo ist mein Mann?« Sie sieht weder Paul noch mich an, während sie spricht.

Ich wundere mich, dass sie die Frage so seltsam formuliert. Wenn sie Paul für seinen Vater hält, warum fragt sie ihn nicht nach seinem Vater? Paul sieht mich hilflos an, mir fällt ein, dass sein Großvater vor zwei Wochen gestorben ist.

Die alte Frau fängt an, die Medikamentenschachteln hektisch zu verschieben und hochzuheben. »Viel zu wenig«, murmelt sie. Sie dreht sich zu Paul, sieht ihn empört an, hebt die Hände: »Die Medikamente gehen aus.«

Paul schiebt mich bestimmt nach draußen und schließt die Tür hinter uns. Hektisch fängt er an, in seinen Hosentaschen zu kramen.

»Warum lebt sie da drin so alleine und abgeschieden?«, frage ich.

Er antwortet nicht, durchsucht weiter seine Taschen, geht den Gang entlang und setzt sich auf Stufen, die nach unten führen.

»Wer kümmert sich um sie?«

Paul zieht einen Joint aus der Tasche, zündet ihn an und beginnt zu rauchen. »Es ist ihr Haus, sie will hier wohnen bleiben. Außerdem kann man einen Menschen nicht einfach so in ein Heim abschieben, dafür muss man beim Pflegegeld irgendwie besonders eingestuft werden. Sagen zumindest meine Eltern. Und das ist sie nicht. Sie hat ja bis jetzt mit meinem Großvater zusammen hier gewohnt, also nicht alleine.«

»So hab’ ich das gar nicht gemeint. Ich wollte nur wissen, warum deine Großmutter in ihrem eigenen Haus in einem so kleinen Raum lebt.«

»Das Haus gehört im Grunde schon meinem Vater. Und sie wollten das, alle beide. Sagt er.« Er sieht mich ungeduldig an, meine Fragen behagen ihm nicht.

Ich setze mich neben ihn.

Er reicht mir den Joint, atmet tief durch, entspannt sich. »Meine Eltern kümmern sich ganz gut um sie, geben ihr Medikamente, kaufen für sie ein. Einerseits behauptet sie immer, alleine zurechtzukommen, aber wenn meine Eltern ihr zu nahe kommen, fängt sie sofort an, sie herumzukommandieren, ihnen vorzuwerfen, was sie nicht schon längst alles hätten tun sollen. Und sie misstraut meiner Mutter. Und glaubt offenbar, dass es die Pflicht ihres Sohnes ist, ihr immer und auf der Stelle zu helfen. Das ist sie von früher so gewohnt, sagt er. Erziehung und so. Ihre Erziehung ist wahrscheinlich das Einzige, woran sie sich erinnern kann. Mit meinem Großvater war es genauso.« Er zieht die Schultern hoch und lehnt sich gegen die Wand. »Ich bin nur das Kind«, sagt er laut.

Ich rauche schweigend, sehe ihn an. Er tut mir Leid, ein wenig, bin mir nicht ganz sicher, warum, aber bemitleidet will er sicher nicht werden.

»Wann hast du das letzte Mal mit deinen Eltern gesprochen?«

Paul zieht die Augen zu misstrauisch zusammen, sieht mich ärgerlich an

Ich halte seinem Blick stand, zumindest einige Sekunden. Ich habe ein Recht auf seine Antworten, schließlich bin ich ihm zuliebe hier.

»Ist schon länger her«, antwortet er, greift nach dem Joint, ich ziehe meine Hand zurück.

»Mehr als zwei Wochen?«, frage ich nach.

Er mustert mich, sein Gesichtsausdruck wird noch misstrauischer: »Vielleicht.« Offensichtlich will er einen Streit vermeiden, greift wieder nach dem Joint, nimmt ihn aber nicht, sondern hält meine Hand fest. Wir sehen beide auf den Joint in meiner Hand, ich schäme mich dafür, dass ich versucht habe, ihn auszufragen. Unter uns singen Simon und Garfunkel: »Hello darkness, my old friend, I’ve come to talk with you again …«

Donnerstag

Wieder dieses Lied. Paul geht unruhig in seinem Zimmer auf und ab, ich sitze auf seinem Schreibtisch und sehe ihm zu. Er hebt Orangenschalen auf, die Reste des Frühstücks. »Wer spielt dieses Lied?«

Er sieht mich gereizt an, will »Simon & Garfunkel« sagen, merkt dann, dass ich diese Antwort schon kenne.

Vielleicht fällt ihm auch ein, dass wir heute schon bei seiner Großmutter waren, die ihm genau die gleiche Frage gestellt hat. Und wollte, dass er ihr Medikamente bringt und Brot einkauft, das sie dringend braucht. Er hat verärgert die Tür hinter sich zugeworfen. Ich habe ihn mit einem Kopfschütteln davon abgehalten, sich einen Joint anzuzünden, er hat schwach gelächelt.

»Wer dieses Lied spielt?«, fragt er und bleibt vor mir stehen. »Thomas.«

Ich wundere mich, er reicht mir seine Hand und zieht mich vom Schreibtisch. Paul geht zur Tür, ich werde wie ein eingeschüchtertes kleines Kind mitgezogen. Wir gehen die Treppe hinunter, einmal um die Ecke, biegen nach rechts ab, später nach links, es ist wie immer still im Haus. Wir gehen noch ein Stockwerk tiefer, ich habe schon die Orientierung verloren. »The Sounds of Silence« wird immer lauter, ich kann das Schlagzeug deutlich hören, die Stimmen werden klarer.

Wir biegen noch einmal um die Ecke, Paul lässt meine Hand los. Auf einer Treppe, die in den Keller führt, sitzt ein kleiner Junge, etwa sechs Jahre alt, seltsam geistesabwesend. Neben ihm steht ein CD-Player, aus dem »The Sounds of Silence« ertönt.

»Thomas«, sagt Paul.

Der Junge reagiert nicht, sagt auf einmal: »Großvater ist tot, und sie haben ihn im Garten vergraben, genau wie die andere Oma und den anderen Opa.« Seine Stimme klingt hohl, die Situation ist unwirklich, mir läuft die Gänsehaut auf.

»Im Garten vergraben?«, wiederhole ich.

Thomas sieht zu mir hoch, starrt mich verwundert an.

Ich setze mich zögernd auf die oberste Stufe, Thomas drei Stufen unter mir. »Großvater ist vor zwei Wochen gestorben und sie haben ihn im Garten vergraben, genau wie die anderen Großeltern.«

Er scheint mich fragen zu wollen, wer ich bin, doch Paul setzt sich neben mich und legt mir die Hand auf die Schulter: »Er meint die Eltern unserer Mutter. Die sind vor mehr als zwei Jahren gestorben, an die kann er sich gar nicht richtig erinnern.«

»Kann ich doch«, widerspricht Thomas entschieden.

»Und wie kommst du bitte auf die Idee, dass sie im Garten vergraben sind?«, fragt Paul.

Ich frage mich, wie er so ruhig und gelassen reagieren kann – und ob dieses Gespräch nur mir skurril erscheint.

»Ich weiß, dass sie Großvater im Garten vergraben haben, und warum sollten sie es mit den anderen Großeltern anders gemacht haben? Die sind doch auch so schnell verschwunden.«

»Du kannst dich nicht erinnern«, sagt Paul verächtlich.

Thomas schaltet den CD-Player aus und steht auf: »Doch.«

»Wenn du meinst. Ich kann mich zwar an das Begräbnis erinnern …«

»Und wie ist das bei Großvater?«, sagt Thomas laut, »Bei dem hat es kein Begräbnis gegeben.«

»Das ist lächerlich. Bloß weil du nicht auf dem Begräbnis warst …«

»Du warst doch auch auf keinem Begräbnis«, schreit Thomas.

Paul senkt den Kopf und zuckt mit den Schultern.

Dieses Gespräch wurde schon öfter geführt, ich denke, ich bin nur unbeteiligter Zuseher.

Plötzlich sieht Thomas mich an: »Mama und Papa haben Großvater im Garten vergraben, weil sie ihn schnell loswerden wollten. Außerdem können sie so tun, als würde er noch leben.«

Er bezieht mich ein, weil er denkt, einen Verbündeten gewinnen zu können, doch Paul unterbindet diesen Versuch, er verdreht die Augen: »Und weiterhin seine Pension kassieren, oder was? Unsere Eltern haben genug Geld, die haben das nicht nötig. Außerdem, nur weil wir beide nicht auf dem Begräbnis waren, heißt das noch lange nicht …«

Über uns sind Schritte zu hören, die rasch näher kommen. Thomas hebt den CD-Player hoch und huscht die Treppe hinab, Paul nimmt meine Hand, wir folgen ihm. Im Dunkeln tasten wir uns um die Ecke. Eng an die Mauer gedrückt hören wir, wie die Schritte näher kommen, am Treppenabsatz stoppen und sich wieder entfernen.

»Vielleicht haben sie uns einfach nichts von dem Begräbnis erzählt«, flüstert Paul, »vielleicht wollten sie nicht, dass wir mitkommen, weil sie denken, dass es uns zu sehr aufregen würde.«

Wir schweigen alle drei, ich höre, wie Thomas sich niedersetzt.

»Was ist eine Pension?«, fragt Thomas vorsichtig.

Paul antwortet ihm nicht, ich will mich nicht einmischen.

»Warum spielst du das Lied?«, frage ich, um die Stille zu beenden.

Paul drückt meine Hand, will nicht, dass ich diese Frage stelle.

»Es erinnert mich an Großvater. Er hat das Lied immer gehört und mir auch eine CD geschenkt, weil er zwei davon gehabt hat und weil mir das Lied so gut gefällt. Und in der Nacht, wo ich nicht schlafen konnte, weil Papa uns beim Abendessen gesagt hat, dass Großvater aus dem Nachmittagsschlaf nicht mehr aufgewacht ist, hab ich auch den CD-Player eingeschaltet und das Lied gehört. Dann hab ich draußen gehört, dass jemand herumgeht und etwas aus dem Schuppen holt.«

Paul flüstert an meinem Ohr mit leicht ironischem Unterton, als wollte er sich über seine eigenen Worte lustig machen: »Lange nach Mitternacht, und jemand hat im Schuppen etwas umgestoßen, eine Leiter oder so, ist wieder herausgekommen, und etwas Schweres ist über den Rasen gezogen worden, zwischen den Rosenbeeten durchgeschleift.«

Freitag

Die Großmutter sieht Paul vorwurfsvoll an: »Ich brauche Medikamente.«

Er deutet auf die Kommode: »Du hast mehr als genug.«

Sie antwortet nicht, sieht ihn verständnislos an, begreift möglicherweise nicht, was er sagt. »Ich brauche Medikamente«, wiederholt sie.

»Du hast genug, außerdem kümmert sich meine Mutter darum, ich hab gar nichts damit zu tun.«

Sie sieht ihn weiter verständnislos an, ich lege ihm die Hand auf die Schulter, will ihn dazu bewegen, dass wir gehen.

»Wer spielt dieses Lied?«, fragt die Großmutter.

Paul lauscht, ich auch, wir hören nichts. »Sie weiß nicht mehr, was sie sagt«, flüstert Paul mir ins Ohr, »sie sagt einfach irgendwas.«

»Wer ist deine Freundin?«, fragt die Großmutter neugierig.

Paul zuckt zusammen, mustert die Großmutter und sagt: »Sie ist nicht meine Freundin.«

Sie lächelt überlegen, er geht zur Tür und nach draußen, ich folge ihm, drehe mich noch einmal um, die alte Frau steht noch immer lächelnd da. Ich schließe die Tür hinter mir. Paul sieht mich von der Seite an, setzt zum Sprechen an. Im Obergeschoss werden Schritte hörbar, jemand nähert sich rasch. Paul sieht sich gehetzt um, huscht leise um die Ecke und die Treppe hinunter, ich folge ihm.

Er schließt seine Zimmertür hinter mir, steigt auf den Schreibtischsessel, auf den Schreibtisch und klettert von dort auf den Kasten. Ich steige auf den Schreibtisch, er hilft mir, auf den Kasten zu gelangen. Der Kasten ist nur etwas höher als eineinhalb Meter und steht direkt neben der Tür, falls er sich verstecken wollte, wäre der Kasten ungeeignet. Doch er scheint sich sicherer zu fühlen, atmet auf und deutet mir, still zu sein. Ich beobachte ihn, wie er im Schneidersitz leicht den Rücken krümmt und aufmerksam lauscht, die Schritte draußen kommen näher. Ich bringe meine Beine ebenfalls in den Schneidersitz, unsere Knie berühren sich, draußen nähern sich jetzt von der anderen Richtung ebenfalls Schritte.

Vor der Zimmertür stoppen die Schritte, eine männliche Stimme fragt: »Hast du Paul gesehen?«

»Ich habe keine Ahnung, wo er ist«, antwortet Sophie.

Die Schritte entfernen sich nach unten, ich frage mich, warum sie nicht in Pauls Zimmer nachgesehen haben. Aber falls seine Eltern wirklich schon zwei Wochen nicht mit ihm gesprochen haben, werden sie vielleicht auch nicht glauben, dass er in seinem Zimmer ist. Die Frage ist auch, was sie tun wollen, wenn sie ihn finden. »Ihn im Garten vergraben«, antworte ich mir selbst in Gedanken, hinterher tut es mir Leid.

Paul lenkt mich von meinen Überlegungen ab, er zieht einen Joint aus der Tasche und dreht ihn gedankenverloren zwischen den Fingern. »Vielleicht doch«, sagt er, widerspricht seiner Antwort auf die Frage der Großmutter.

Ich nehme ihm den Joint aus der Hand: »Vielleicht doch.«

Samstag

Sophie sieht mit verschränkten Armen auf uns herab, wir sitzen auf dem Teppich vor Pauls Bett. Sie hat das Zimmer ohne anzuklopfen betreten, worauf Paul schnell die Wasserflasche und die Müsliriegel, die vor uns auf dem Boden gelegen haben, hinter das Bett geschoben hat. Er hält seine Hände immer noch hinter dem Rücken.

»Hast du den Kleinen gesehen?«, fragt Sophie.

»Welchen Kleinen?« Paul stellt sich begriffsstutzig.

»Thomas. Versteckt er sich schon wieder im Keller?«

»Ist schon eine Weile her, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe.«

Sophie seufzt und setzt sich ebenfalls auf den Teppich, die Arme weiterhin verschränkt: »Warum stellst du dich so stur?«

»Du kannst ja selbst nachsehen, ob er im Keller ist.«

»Das werde ich auch tun.«

Paul sieht sie trotzig an, wirkt lächerlich, sie spricht langsam mit ihm, wie mit einem kleinen Kind.

Sophie wendet sich mir zu, betrachtet mich nachdenklich: »Erzählt er immer noch diese Gruselgeschichten?«

»Wer?«, frage ich.

»Beide. Thomas und Paul.« Nach einer Pause fügt sie hinzu: »Ich weiß, dass ihr mit Thomas gesprochen habt. Ich habe euch gehört.«

Es klingt nicht rechthaberisch, ich frage mich, warum ich auf Pauls Seite stehe, obwohl sie sehr viel vernünftiger und logischer spricht, doch ich will ihn nicht verraten. »Welche Gruselgeschichten?«

Sophie sieht mich stirnrunzelnd an und seufzt wieder: »Hältst du es für eine kluge Idee, die beiden zu unterstützen? Es ist doch offensichtlich, dass die beiden … einen Hang zum Fabulieren haben, um es mal so auszudrücken.«

Sie sieht zwischen Paul und mir hin und her, um zu verstehen, was zwischen uns vorgeht, sehr überlegene Blicke, mit ein wenig Mitleid für mich, wie mir scheint. »Die Eltern unserer Mutter sind im Altersheim«, stellt Sophie fest, »und unser Großvater ist vor etwa zehn Tagen begraben worden.«

Ich sehe auf Paul, der eine Grimasse zieht: »Du weißt genauso gut wie ich, dass unsere Großeltern tot sind.«

»Sie sind im Altersheim, Paul.« Sie zieht eine Augenbraue hoch und sieht ihn missbilligend an.

»Den Blick kenn ich«, sagt Paul, »den hast du von unserer Mutter gelernt. Und auch, wenn Thomas ein wenig übertreibt, er hat insofern Recht, als dass sie tot sind.«

»Sie sind im Altersheim«, beharrt Sophie.

Ich beobachte sie aufmerksam, versuche, ihr in die Augen zu sehen.

Sie weicht meinem Blick nicht aus.

»Und was ist mit Großvater?«, hakt Paul nach.

»Großvater liegt in seinem Grab, auch wenn ein Sechsjähriger, der sich seit Tagen mit einem CD-Player im Keller versteckt, und ein Sechzehnjähriger, der zu viel mit Marihuana zu tun hat, etwas anderes sagen.«

Ich sehe Paul an, der den Kopf senkt und schweigt. Ich sehe Sophie an, überlege, wie es wäre, wenn ich mit ihr gemeinsam gehen würde. Von unten ist wieder »The Sounds of Silence« zu hören, noch lauter als sonst.

Sophie zieht die Schultern hoch, wirft ihrem Bruder einen verständnislosen Blick zu und steht auf.

»Hast du sie etwa schon im Altersheim besucht?«, fragt Paul.

Sophie zögert einen Moment zu lange, sagt dann: »Ja.« Sie geht mit raschen Schritten zur Tür.

»Und warst du auf Großvaters Begräbnis?«

Sophie zögert, antwortet nicht und schließt die Tür hinter sich.

Paul starrt an die Zimmertür, legt sich auf den Teppich und starrt an die Decke. »Du kannst glauben, wem du glauben willst«, sagt er, es soll selbstbewusst klingen, hat aber einen verzweifelten Unterton.

In meinem Kopf vermischen sich die verschiedenen Versionen, tote Großeltern, lebende Großeltern, im Garten, nicht im Garten. Untote fehlen irgendwie. Würde er mich anlügen? Ich sehe Paul an, warum nicht, denke ich, aber warum würde ihm etwas daran liegen, dass ich tagelang bei ihm bleibe, wenn es ihm nur darum geht, mich anzulügen? Ich lege mich neben ihn, sehe ebenfalls an die Decke, meine Hand berührt zufällig seinen Handrücken. »… because a vision softly creeping left its seeds while I was sleeping and the vision that was planted in my brain still remains …«, dringt durch die Zimmertür, ich schließe die Augen, spüre weiterhin Pauls Handrücken.

Sonntag

Es ist draußen noch dunkel. Paul sitzt im Dunkeln auf der Treppe, ich neben ihm.

»Sophie nimmt Medikamente«, flüstert er, »weil sie Angstzustände hat, sich vor fremden Leuten fürchtet und davor, aus dem Haus zu gehen. Und weil sie halluziniert, irgendwie von seltsamen Dingen redet, überall Verschwörungen sieht, und Menschen, die nicht da sind. Schon seit Jahren. Es geht ihr manchmal nicht so besonders gut.«

Ich kann den Rauch riechen, er hat sich noch nicht ganz verflüchtigt, erst vor kurzem hat Paul geraucht. Seine Pupillen sind geweitet, vielleicht vom Dämmerlicht, vielleicht auch nicht. Er macht einen abwesenden Eindruck, nachdenklich, aber ruhig.

»Und?«, sage ich in die Dunkelheit.

Er berührt meine Hand, ich rutsche ein Stück näher, weg von der Wand. »Großmutter ist tot, heute Nacht gestorben.«

Ich nehme seine Hand in meine Hände, sie ist kalt.

»Ich habe aus dem Fenster gesehen. Sie sind in den Schuppen gegangen, haben eine Schaufel geholt. Er hat Oma hinausgetragen, sie ist so leicht, dass er sie tragen kann, zwischen den Rosenbeeten hindurch.«

»Warum?«, flüstere ich, will es im Grunde gar nicht aussprechen.

»Warum nicht?«, sagt Paul, streckt die andere Hand aus und berührt mein Gesicht. »Täter haben niemals ein klares Motiv, habe ich einmal gehört. Klingt sehr abgehoben und abgeklärt. Das bin ich nicht. Ich bin nur das Kind.«

Ich sehe ihm in die Augen, er sieht zurück, bittend, nicht mehr so abwesend, leicht verängstigt.

»Hello darkness, my old friend, I’ve come to talk to you again«, beginnt Paul zu singen, »because a vision softly creeping left its seeds while I was sleeping and the vision that was planted in my brain still remains within the sounds of silence, in restless dreams I walked alone …« Er bricht ab, wartet vielleicht auf den Einsatz des Schlagzeugs, der an dieser Stelle kommen sollte. Oder ihm fehlt ein Duettpartner, seine Stimme allein klingt ihm zu verlassen. Oder er fühlt sich unsicher, ohne die Begleitung der Gitarre, alleine in der Dunkelheit.

»Hörst du es auch?«, fragt er.

Ich umarme ihn vorsichtig, er lässt sich umarmen, in unseren Köpfen hören wir Simon & Garfunkel, die verlässlich weitersingen.