Selina Bruderer (15)

Ich könnte aussteigen

Einfach so. Einfach hier. Mich aus dem Sitz hochziehen, die zusammengeknüllte Jacke auseinander falten, die beiden Ärmel um meine Hüfte schlingen, den Koffer von der Ablage zerren, ihn in den schmalen Gang wuchten, den Henkel ausziehen und aussteigen. Einfach so. Einfach hier.


Niemand würde auf mich warten. Niemand würde mich in seine Arme schließen. Nur die weiße Bahnhofsuhr würde mir das Ticken ihres roten Sekundenzeigers entgegenschicken. Doch bald wäre ich unter ihr durchgelaufen, zielstrebig, als hätte ich ein Ziel, als wäre ich furchtbar beschäftigt. Alle würden denken, ich wolle nur möglichst schnell weg von diesem Ort, wo einem nur das Ticken eines kleinen Zeigers Aufmerksamkeit schenkt. Alle würden denken, ich werde erwartet. Vielleicht würden sie mich sogar beneiden. Vielleicht – falls jemand da wäre, um zu denken.


Mein Blick schweift über den körnigen Beton, ich erkenne deutlich den weißen Strich. Die Grenze. Hinter dieser Grenze wird man erwartet, vom Ticken der Uhr, der grünen Bank, dem Schnarchen des schmutzigen Mannes, dessen Körper auf dem grünen Holz lastet. Er hat es getan. Hat die weiße Linie übertreten. Irgendwann. Irgendwo. Er ist zur Parkbank gegangen. Hat sie zum Begleiter durch die kalte Nacht gewählt. Er ist ausgestiegen und hat sein Ziel zurückgelassen, im Vergessen.

Verlaust, frierend, hungrig und doch frei – irgendwie.


Mein Koffer würde rattern, wenn ich seine Räder über den holperigen Belag ziehe. Bis zur Treppe würde er dieses knatternde Geräusch hinter sich herziehen, wie eine lange leblose Schlange. Dann müsste ich seinen Kunststoffgriff ergreifen, gegen die Schwerkraft ankämpfen, um ihn von der Erde wegdrücken zu können. Ich würde gewinnen, doch nur für kurze Zeit. Mit beiden Händen müsste ich anpacken. Sie würden sich verkrampfen. Die Sehnen hervortreten, wie die Adern eines alten Menschen. Wenn ich die letzte Stufe überschritten hätte, würde ich meine Stirn gegen die kalte glatt geschliffene Wand drücken. Ihre Kälte in mich aufsaugen.


Genau jetzt müsste ich aufstehen, bevor die Trillerpfeife die Ruhe zerreißt. Jetzt könnte ich es noch schaffen, könnte auftauchen aus meinem grauen Leben. Kein schlechtes Leben, zugegeben, und doch – normal so viele Male schon vor mir gelebt – langweilig – grau. Genau jetzt müsste ich die weiße Grenze überschreiten, um meinen Irrsinn leben zu können, um mich leben zu können.


Der Penner zieht über die verkratzte Scheibe, verschwindet aus meinem Blickfeld. Ich bleibe sitzen, kuschle mich in meine Jacke. Der leicht schaukelnde Zug trägt mich immer weiter fort von dem roten Zeiger, der grünen Bank, dem Penner und einem Stückchen zurückgelassener Sehnsucht. Ich schließe die Augen und schlüpfe durch das geschlossene Fenster, träume mich über die weiße Grenze hinaus in die farbige Nacht.