Selina Bruderer (15)

Mittagspause

Die Propellerchen schweben lautlos durch die Luft. Werden aufgewirbelt, wieder hinunter gezogen, vollführen ihren Abschiedstanz, bevor sie auseinander getrieben werden. Einige scheinen sich aneinander zu klammern, andere suchen ihren Weg allein. Sie alle fliegen unsicher flatternd und doch zielstrebig zu Boden. Ihr erster Flug ist auch ihr letzter. Was wird mit ihnen geschehen? Werden sie zu einer Blume, zum Ursprung von unzähligen ihrer Art heranwachsen?

Sie hat den Löwenzahn am Strassenrand gesehen, hat sich niedergebückt, um ihn zu pflücken und die winzigen Propeller auf ihre Reise geschickt, hinaus ins Dunkel der Nacht. Sie mag Löwenzahn. Mario hat immer damit gespielt, als er zwei war. Er versuchte, die winzigen Propeller mit seinen Patschhänden zu fangen. Das war ein Spiel. Sein Spiel. Wenn es glückte, drang ein Glucksen aus seinem Mund und er zeigte ihr strahlend das kleine Ding. Jetzt kann Mario keine Propellerchen mehr fangen. In seinem 90cm Sarg ist kein Platz dafür.

Heute war diese junge Mutter bei der Arbeit. Doch sie hat die mitleidigen Blicke und die Mitleidsbekundungen nur eine Stunde ausgehalten. Dann ist sie gegangen. Einfach so. Ohne irgendjemandem irgendetwas zu sagen. Zwei Stunden später stand sie vor einem alten Haus. Ihre Füsse hatten sie hergetragen, ohne sie zu fragen. Durch ein kleines Fenster konnte man ins Innere des Gebäudes sehen. »Kindertagesstätte« stand in Grossbuchstaben auf die Fassade geschrieben. Das »K« und das »D« hatten einen grossen Sprung. Sie spähte durch das kleine Fenster. Automatisch suchte sie in den spielenden Kindern nach Mirco. Sie fand ihn nicht. Traurig wandte sie sich ab. Normalerweise hätte sie ihrem kleinen Sohn kurz zugewinkt, um darauf beruhigt zu ihrem Büro zurück zu fahren. Sie wäre zufrieden gewesen auch ohne Mittagessen. Dann hätte sie sich beeilen müssen, um den Bus noch zu bekommen. Die Mittagspause im Bus verbringen, nur um dem Sohn kurz zuwinken zu können. Viele meinten, das sei verrückt. Doch manchmal musste sie Mirco einfach sehen.

Langsam geht sie weiter. Ihre Füsse tun weh. Die Strasse wird immer steiler. Einmal, da schob sie zusammen mit ihrer besten Freundin Moni Mircos Kinderwagen diese Strasse hinab. Es war ein sonniger Frühlingstag. Mirco hatte gute Laune. Er sass aufrecht im Kinderwagen und brachte die beiden Frauen mit seinem »sneller, sneller« dazu, die Strasse so schnell sie konnten runterzurasen. Das war lustig. Als sie unten ankamen, lachte Moni ausgelassen. Mirco strahlte übers ganze Gesicht und sie, ja, sie war einfach glücklich.

Moni. Vor einer Woche hatte sie sie besucht. Zuerst weinten sie eine geschlagene halbe Stunde gemeinsam, dann wetterten sie über die Camion-Fahrer, die lieber in ihren Magazinen blätterten als auf spielende Kinder zu achten. Am Ende lallten beide nur noch. Sie hatten geglaubt, der Whisky könnte ihre Sorgen ersticken. Doch es hatte nichts geholfen. Der Kater machte alles nur noch schlimmer.

Die Sonne ist schon lange hinter den Bergspitzen verschwunden. Sie fröstelt. Schon schleicht sich Mario wieder in ihre Gedanken ein. Oder besser gesagt, er ist ihre Gedanken. Schon seit seiner Geburt beherrscht er ihre Gedanken, ihre Liebe, ihre Sorgen, ihre Freude, einfach alles, ihr ganzes Leben. Ob Mario wohl auch friert? Wohl kaum. Können Tote frieren? Ein abstruser Gedanke. Lebende können es. Sie kann es, das fühlt sie. Doch es ist ihr egal. Es ist nicht mehr wichtig. Nichts ist mehr wichtig. Jetzt gibt es nur noch diese Strasse, das kleine Wäldchen, die Brücke, die alles miteinander verbindet, den rauschenden Fluss, der sich unter der Brücke austobt, und sie. Der Boden unter ihren Füssen knarrt. Sie hat die Brücke erreicht. Bedächtig schwingt sie den ersten Fuss über die Brüstung.