Michael Wörister (19)

Sagt Martin

»Katzen haben sieben Leben«, sagt Martin und schießt den Vogel vom Dach des Schuppens. Der Vogel rollt über die Schindeln und fällt ins Gras. Hannes geht hin, stößt ihn mit dem großen Zeh an und steckt ihn in die Hosentasche. Martin steckt eine neue Kugel ins Luftdruckgewehr.
»Sterben die dann auch sieben mal?«, sagt Hannes.
Martin schießt den Vogel vom Ast der Birke, er fällt ins hohe Gras. Hannes steckt ihn ein, die Schwanzfedern ragen aus der Tasche. »Müssen sie dann ja«, sagt Martin und steckt eine neue Kugel ins Gewehr. Er schießt einen Splitter aus dem Zaunpfahl, der Vogel fliegt davon.
»Ich glaub, das reicht für heute.« Martin legt das Gewehr ins Gras, zieht die Zigarettenpackung aus der Tasche, die beiden stellen sich in den Schatten hinter dem Schuppen, Martin hat das Feuer.
»Was hat sie gesagt?«, sagt Martin.
»Sie will noch nicht.« Hannes zündet seine Zigarette an.
»Wann will sie denn?«
»Am Wochenende vielleicht, hat sie gemeint. Aber ich weiß nicht«, sagt Hannes.
Martin zieht einen Vogel aus der Tasche, zieht ihm die Flügel auseinander, dreht ihn, bläst ihm Rauch unter die Federn. »Ob der noch fliegen kann?« Martin wirft den Vogel durch die Luft. Er dreht sich und schlägt mit dem Kopf im Gras auf. Hannes drückt seine Zigarette aus.

»Heute schieße ich zuerst«, sagt Martin. Hannes gibt ihm das Gewehr. Er schießt den Vogel vom Zaunpfahl, der Vogel fällt in einem Bogen ins Gras. Die Halme sind trocken an Hannes’ Füßen, er klettert über den Zaun, eine morsche Latte bricht unter seiner Hand, der Vogel hat ein kleines Loch im Kopf, Hannes steckt ihn in die Hosentasche und geht zu Martin. Martin lädt das Gewehr durch.
»Ich hab ein paar neue Gurkengläser in den Schuppen gestellt«, sagt Hannes.
»Ja«, sagt Martin und sieht sich nach einem neuen Vogel um. Hannes zieht seinen Vogel aus der Tasche und legt ihn zu den beiden anderen neben Martins nackten Füßen.
»Können wir eine rauchen?«, sagt Hannes.
»Ich krieg noch Geld von dir.« Martin zieht die Zigarettenpackung aus der Tasche und gibt sie ihm.
»Ich zahl die nächste Packung, ja?«, sagt Hannes.
Martin hebt die Vögel auf, hängt das Gewehr um die Schulter. Sie gehen zum Schuppen, Martin trägt die Vögel vor dem Bauch.
Es ist heiß und dunkel im Schuppen. Licht fällt durch die Spalten in den morschen Bretterwänden. Die Vögel liegen mit geknickten Hälsen und angewinkelten Flügeln in den Gurkengläsern am Regal. Martin steckt die frischen Vögel in Gläser und schraubt den Deckel zu. Hannes nimmt zwei Zigaretten aus der Packung, Martin hat das Feuer.
»Und, habt ihr schon?« Martin zieht an der Zigarette.
Hannes bläst den Rauch mit spitzen Lippen in die Luft. »Heute Nacht sind ihre Eltern nicht da.«
Sie scharren mit den Füßen am Boden.
»Ich hab gestern einen geilen Film gesehen«, sagt Martin, »da war so ein Typ, der ist durch den Dschungel in Vietnam gelaufen und hat die ganzen Chinesen erschossen. Und einmal, da sind gleich zehn von ihnen gekommen, mit so Buschmessern, und er hat keine Munition mehr und blutet schon überall, da schreit er ‘Scheiß Kommunisten!’ und schlägt allen zehn mit dem Gewehrkolben die Schädel ein, alle zehn.«
»Geil«, sagt Hannes und zertritt seine Zigarette am Boden.

Martin kommt mit dem Fahrrad um die Ecke des Schuppens, steigt ab und wirft es ins Gras. Hannes schießt den Vogel vom Ast und steckt eine neue Kugel ins Gewehr.
»Na?«, sagt Martin.
»Hallo«, sagt Hannes.
Martin zieht die Zigaretten aus der Tasche und geht in den Schuppen. Hannes legt das Gewehr ins Gras und läuft ihm nach. Martin hat das Feuer. In den Gläsern sind Spatzen, Rotkehlchen, ein Zaunkönig, zwei Amseln, eine Schwalbe. Martin stellt sich vor Hannes, bläst Rauch mit vorgestreckter Unterlippe in die Luft.
»Also sag, wie war’s gestern?«
Hannes zieht an seiner Zigarette.
»Sag schon«, sagt Martin.
»Sie will noch ein paar Wochen warten, hat sie gesagt.«
»So ’n Scheiß. Mit der würd’ ich sofort Schluss machen.«
Hannes zieht an seiner Zigarette.
»Noch heute am besten, sonst weiß sie, was für ein Waschlappen du bist«, sagt Martin.
Hannes sieht auf seine Füße.
Martin drückt seine Zigarette an einem Gurkenglas aus und geht nach draußen. Hannes läuft ihm nach. Martin nimmt das Gewehr.
»Ich krieg noch Geld«, sagt Martin und zielt auf den Vogel am Zaunpfahl. Etwas Dunkles läuft durchs Gras, Martin ruft, »hey«, zieht den Lauf nach unten und drückt ab. Es knallt, dann kreischt die Katze hinter den hohen Grashalmen, Hannes läuft, Martin läuft nach, die Katze am Boden schreit.
»Du hast ihr das Auge ausgeschossen«, sagt Hannes.
Martin hält das Gewehr fest. »Scheiße.«
Die Katze versucht aufzustehen, fällt wieder hin.
»Wir müssen was tun«, sagt Martin und sieht sich um. Die Katze wimmert.
»Du bist ein Idiot.«
»Wenn wir schnell zum Tierarzt –«
»Wie denn?«
Die Katze wimmert. Hannes nimmt Martin das Gewehr aus der Hand.
»Keine Kugel mehr drin«, sagt Martin.
Hannes hebt das Gewehr und schlägt der Katze mit dem Kolben auf den Schädel, es knackt, die Katze zuckt. Hannes schlägt noch einmal zu, die Katze ist still. Hannes wirft das Gewehr ins Gras, dreht sich um und geht. Martin bleibt bei der Katze stehen.