Mara-Feen Kemlein (14)

ein paar seiten aus meinem leben

»mhh, muss das wirklich sein?«

»oh, Joss! du weißt doch ganz genau, wie stur sie ist … «

»psst! lasst sie doch erst mal anfangen zu erzählen.«

vielleicht denken sie, ich alte frau würde sie nicht hören. doch ich höre sie …

ich höre sie gut. und präge mir jedes wort ein … ich höre besser, als die meisten menschen. und das ist ein glück.

sie sollen wissen, wie es war damals. Also fange ich an.

schwarz.

alles war schwarz.

so muss es sein, wenn man blind ist. ganz schwarz. wenn da nicht dieses kleine licht gewesen wäre, ganz hinten, ganz weit weg. kaum mehr als ein funken, aber doch da. stetig wachsend, ganz langsam.

erwartete mich dort hinten

meine erlösung? die antwort

auf meine fragen? oder doch

wieder nur eine neue

sackgasse, kalt, hohl und

falsch?

meine augen tränten, ich zog den kopf ins abteil zurück und schob das fenster zu.

glitt in einen unruhigen schlaf hinüber und schlief doch nicht. sah immer die gleiche frau vor mir. wie sie dort kniete in gähnender dunkelheit. schreiend. mich um etwas anflehend, was ich nicht verstand. ihr blondes haar fiel ihr strähnig ins gesicht, ihre augen blutunterlaufen. manchmal umspielte ein wahnsinniges lächeln ihr gesicht. manchmal blickte sie mich nur traurig mit ihren leeren grauen augen an.

der zug glitt aus dem tunnel hinaus und im nu war die fensterscheibe nass vom niederprasselnden regen.

angefangen hatte das alles vor vier monaten. damals hatte ich endlich erfahren, dass meine mutter tot war. ich hatte keine erinnerung an sie und keiner konnte mir sagen, wie sie aussah, wie ihre stimme klang, oder warum sie tot war. jetzt war ich auf der suche nach meinem vater.

nach dem mann, der sie nach meiner geburt verlassen hatte. wut kochte in mir hoch. doch ich kannte ihn nicht. und vor allem kannte ich sie nicht.

aber hatte ich sie wirklich nicht mehr in erinnerung? wer war die frau, die ich sah, in meinen träumen? ich brauchte endlich ein bild meiner mutter! aber vielleicht hatte er sie ja auch schon längst vergessen und würde lachen, wenn ich ihn um eine photographie bitten würde … und dann gab es da noch ein problem …

wo war er?

die abteiltür wurde aufgeschoben, ein mann ohne gesicht trat ein und setzte sich. ich warf ihm einen blick zu und er fuhr zusammen, als hätte ich ihn angeschrien. abermals glitt die tür auf, wir wurden von einem mann kontrolliert, den ich nicht anzuschauen wagte. ob er mein vater war? ob ich das blut des mannes mir gegenüber in den adern hatte? er konnte überall sein …

»nächste station: boston. vorort.«

ein vorort. na, das war doch genau das, was ich brauchte. noch so ein kleines stinkendes kaff, kaum ein dutzend normaler menschen und der typ, der sich diesmal für meinen vater ausgegeben hatte, war sicher keiner davon. seufzend stieg ich aus. ich durfte keine möglichkeit auslassen. keine chance. und wenn sie noch so winzig war. ich sah schemenhaft durch den regen, wie andere leute einstiegen. dann war ich allein.

in einem der schaufenster am bahnhofsgebäude betrachtete ich mich, bevor ich weiterging. tiefe ringe hatten sich um meine augen eingenistet und die frühere ausgelassenheit war längst ausgezogen. ich hätte mich nicht gewundert, wenn spinnweben zu sehen gewesen wären. doch noch waren keine in sicht. ein übler geruch stieg mir in die nase und ich machte, dass ich fortkam von diesem düsteren ort. an der straße warteten zwei müde taxifahrer, doch mich packte ein schauer, als ich dem mann im vorderen wagen ins gesicht blickte. was, wenn er es war?

ich würde lieber zu fuß gehen. oder nein, im zweiten saß eine frau. rasch lief ich auf das taxi zu und stieg ein. »albrechtstraße 17«, hörte ich mich murmeln und das auto fuhr an. hier stank es noch übler als auf dem bahnhof und die taxifahrerin schien der meinung zu sein, dass frauen mit weniger schminke als sie, also mindestmaß ein halbes kilo, keine anständigen frauen waren. immer wieder musterte sie mich stirnrunzelnd von der seite, eine zigarette nervös im mundwinkel.

schließlich fragte sie: »sagen se ma, fehlt ihnen was?«

früher hätte ich jetzt wohl irgendwie gekontert, doch das mädchen von damals gab es nicht mehr. ich war eine andere geworden, in den vergangenen monaten. das leben hatte an mir gezehrt und ich hatte das gefühl, um viele jahre gealtert zu sein.

»nee«, antwortete ich. schließlich fehlte mir ja wirklich nichts. ich hatte meine tasche, hatte meine jacke. mehr hatte ich nicht mitgenommen. »nee«, wiederholte ich. »mir fehlt nichts.«

»na schön«, grummelte die frau und die unterhaltung war beendet. wir hielten an, ich bezahlte, stieg aus, sie fuhr fort. nun stand ich allein hier vor dem haus und wäre am liebsten doch wieder bei ihr im stinkenden taxi.

rechts von mir ein schild, auf dem »sackgasse« zu lesen ist. ich ziehe eine grimasse. eine lange häuserfront liegt vor mir. eins wie das andere. zum glück weiß ich die hausnummer. 17. ich stehe davor und klingle. schlurfende schritte. ein mann macht auf. mein vater?

»hallo«, stammel ich, »sind sie mein vater?«

wie kann man so blöd sein? woher soll der typ denn wissen, ob er mein vater ist?

»nee kleine, das zieht bei mir nich, wenn du meine tochter wärst, wärste mindestens dreißig. bin hier eh nur der hausmeister … zu wem willste denn?«

»er wohnt im dritten stock, erstes zimmer.«

»warum sagste das nich gleich … also wirklich … da vorne is die treppe.«

ich haste die treppen hoch, erster stock … zweiter stock … dritter stock. da.

klopfe an, ein mann macht auf. mein vater???

»hallo«, murmelt er. »bist du’s?«

»ja«, murmel ich zurück und trete ein.

winziges zimmer. küche mit drin, bad extra. und er. ein kleines männlein. schütteres haar, trauriges gesicht.

»woher willst du es wissen?«

»ich hab dein bild gesehn, bei der anzeige.«

»seh ich ihr ähnlich?«

»ja.«

»hast du ein foto von ihr?«

»ja.«

»kann ich es mal sehen?«

ein zögern. dann: »ja.«

er geht zum nachttisch und reicht mir ein darauf stehendes bild.

blondes haar. graue augen. leere graue augen.

sie ist es.

ich blicke auf.

er ist es.

er sieht weg.

»hast du sie verlassen?«

ein schmerz zuckt über sein kleines, runzeliges gesicht.

»nein … sie hat mich verlassen. sie ist dorthin gegangen, wohin ich ihr nicht folgen konnte.«

ich schlucke. selbstmord?

»warum?«

»sie war taub und blind. seit sie denken konnte. nie hat sie jemandem sagen können, dass sie ihn liebt. ich habe ihr immer klar zu machen versucht, dass ich es weiß … dass es mir nicht wichtig ist, ob sie es aussprechen kann oder nicht. doch als du auf die welt kamst, litt sie noch mehr darunter, nie mit dir sprechen zu können. sie hatte angst, dass du nicht mal wirklich wusstest, dass sie deine mutter war. irgendwann … hat sie es nicht mehr ausgehalten und hat sich umgebracht.«

ich schweige.

mein erster gedanke: er kann doch mehr als »ja« sagen. mein zweiter: ist sie irgendwo da draußen? taub und blind, leidend, nicht im stande, ganz fort zu gehen, weil sie mir so gerne sagen möchte, dass sie mich liebt? …ob sie überhaupt sprechen kann, wenn sie ihr leben lang taub war?

der mann mir gegenüber dreht mir den rücken zu und hat wohl genug gesagt. auch ich drehe ihm den rücken zu. so schweigen wir. und ich träume von meiner mutter.

sie weint wieder.

mutter, meine mutter! was soll ich tun? ich weiß, dass du mich liebst!

sie weint weiter.

mutter … wenn ich doch nur etwas tun könnte! bitte … geh endlich und lass mich in ruhe weiterleben!

sie sieht auf. sieht mich vorwurfsvoll an.

ich senke den kopf.

mutter … was kann ich tun? wenn ich dir doch nur mein gehör geben könnte… meine sehkraft… ich würde es tun!

was rede ich da! meine sehkraft? ich würde sie für niemanden aufgeben!

auf einmal merke ich, wie alles verschwimmt … ich sehe nichts mehr. ich bin blind. versuche zu reden und kann es nicht hören. bin taub. doch, jetzt sehe ich etwas. aber nur einen farbenwirbel. wie schön. dann kommt das bild wieder zurück. nur der ton bleibt weg.

meine mutter steht da und bewegt den mund. sie weint, aber vor freude. es sieht aus, als würde sie laut etwas rufen und dann wieder weinen.

sie hat mein gehör.

»mutter!« rufe ich und höre es selbst nicht.

sie sagt drei worte, ich sehe, wie ihre lippen sich bewegen. sie sieht mich jedoch nicht. doch ich weiß, dass sie mir gesagt hat, dass sie mich liebt.

ich lächle und drücke ihre hand.

doch dann will ich etwas sagen, höre es wieder nicht.

»mutter«, murmel ich, »bitte, gib mir mein gehör wieder. ich kann ohne es nicht leben.«

sie schaut mich traurig an und nickt. wird sie ohne es gehen können? wird sie mich endlich in frieden leben lassen können?

dann fällt mir etwas ein, und es kommt mir wie meine letzte rettung vor. meine sehkraft.

dieser farbenwirbel vorhin war doch gar nicht so schlimm.

aber schon habe ich mein gehör wieder und gerade will meine mutter verschwinden, will ich aufwachen, als ich ihr meine sehkraft sende. ich weiß, dass sie mich nicht hört und sage trotzdem noch: »meine welt ist hässlich. ich will sie nicht mehr sehen. doch vielleicht ist es schön, dort wo du nun hingehst.«

dann ist sie weg. und lächelnd wache ich auf. blind. doch ich höre die vögel zwitschern. der mann ist weg. er wird nicht wiederkommen. langsam tastend bewege ich mich vorwärts und verlasse mich ganz auf mein gehör. ein glück, dass es mir geblieben ist. ich öffne die tür. gehe.

schweigen herrscht. dann ein leises schnarchen.

»Joss! wach auf! sie ist fertig.«

»na endlich … dann können wir ja raus!«

»ja kommt. lasst uns gehen. tschüss oma!«

eine tür knallt zu.

ich lache bitter. darf ich vorstellen? meine enkelkinder!