Mara-Feen Kemlein (14)

Der alte Raphael

Die Sonne verschwand schon hinter den stürmischen Wellen und die kleine Dorfkneipe, hoch oben auf den Klippen, war gut besucht. Wie jeden Abend pflegte die ältere Generation des Dorfes den neuesten Klatsch auszutauschen und Gerüchte in die Welt zu setzen. Und wenn es, was in ihrem kleinen Kreis öfters vorkam, mal nichts Neues gab, kamen die alten Geschichten wieder auf den Tisch.

»Also, der Raphael, das ist so einer, den würde ich schlichtweg als verrückt bezeichnen!« Von der Theke kam ein zustimmendes Brummen. »Ja, der ist mir nicht geheuer. Er müsste inzwischen doch schon Mitte siebzig sein!«

»Allerdings!«, ereiferte sich ein älterer, fast gänzlich zahnloser Mann, »Ich bin mit ihm zusammen aufgewachsen und so oft wie der noch auf See ist, das schaffe ich seit zwanzig Jahren nicht mehr.« Mit einer Geste, die offenbar Mitleid erregen sollte, griff er sich an den gebeugten Rücken.

»Ob er den ganzen Fisch alleine isst? Wer weiß, wie viel er noch so fängt … Vielleicht verkauft er ihn ja illegal, irgendwo!«

Ein junger Mann mischte sich etwas verärgert ein: »Was soll illegal daran sein, Fisch zu verkaufen?« Höchst unwillig betrachteten ihn die Älteren und wandten sich ab.

»Hat er, nachdem seine Frau so früh gestorben ist, eigentlich je wieder mit einem Mädchen gesprochen?« Leises Gelächter erfüllte den Raum und durch die entstandene Unruhe rief einer: »Ich könnte wetten, dass er in den letzten fünfzehn Jahren mit niemandem mehr ein Wort geredet hat!« Erneutes, zustimmendes Gemurmel hob an.

Am folgenden Abend saß man mal wieder dicht an dicht gedrängt in der kleinen Kneipe. Und es hatte sich gelohnt zu kommen, wie sie kurze Zeit später feststellen sollten. Irgendwann tauchte nämlich die Dorfärztin auf und verkündete ganz atemlos, Raphael, der Verrückte, sei zu ihr gekommen und habe sie um Hilfe gebeten.

Im Nu wurde es laut in der Kneipe. Viele glaubten ihr nicht. Andere bezweifelten schon, dass er überhaupt noch sprechen konnte. Doch irgendwann verstummten sie alle und sahen gespannt die Ärztin an. Diese bestellte sich erst mal einen Schnaps und genoss die Aufmerksamkeit. Sie nahm einen tiefen Schluck und fuhr fort: »Er hat mich gebeten, mit ihm zu kommen, um mir seine Katze anzuschauen! Sie ist in ein Fangeisen geraten. Wegen einer Katze holt der mich zu sich! Ich habe gedacht, ich träume …« Der Rest ging im erneuten Lärm unter. Alle gaben lautstark ihre Meinung preis. Es gab kaum einen der schwieg in der kleinen Kneipe.

Nur ganz hinten, wo das Licht der Petroleumlampen versagte, saß schweigend ein Junge. Er sah besorgt aus, stand dann abrupt auf und lief zu der Ärztin, die immer noch von einer Traube von Menschen umgeben war.

Früher hatte er sie oft besucht. Kein anderer im Dorf konnte ihm so viel über andere Lebewesen berichten. »Frau Ärztin!«, rief er durch die Menge, »Sagen Sie, konnten Sie denn etwas tun für die Katze?« Zuerst hörte sie ihn gar nicht. Es dauerte eine Weile, bis er sich zu ihr durchkämpfen konnte, und als er endlich ganz erschöpft seine Frage nochmals wiederholte, rollte sie nur mit den Augen. »Nee … die war schon steinalt. Hatte kaum noch Kraft. Hässliches Vieh.«

Dann wandte sie sich ab und er wurde zurückgedrängt. Ganz verstört stand er vor dem Eingang. Schließlich ging er – die Anweisung der Mutter missachtend, dort zu warten, – heimwärts. Was hatte er der Ärztin nur angetan, dass sie auf einmal so unfreundlich war?

Hässliches Vieh, die Worte hallten in seinem Kopf nach.

Ob sie nur niedergeschlagen gewesen war, dass sie der Katze nicht hatte helfen können?

Der Kies knirschte unter seinen Füßen, lustlos kickte er einen Stein vor sich her.

Bald kam er zu seiner Haustür, zögerte kurz und lief dann daran vorbei und weiter zu den Klippen, wo die kleine Hütte von Raphael schon so lange dem ständigen Wind standhielt. Er kannte diesen Raphael nicht. Ob er überhaupt mit ihm reden würde?

Er zögerte kurz und klopfte dann. Ein leises »Herein!« erklang und der Bursche betrat die kleine Hütte. Flüchtig sah er sich um. Die Vorhänge waren zugezogen und eine Katze war nirgends zu sehen.

»Was willst du?« Raphael richtete sich aus dem Bett auf.

Verlegen räusperte sich der Junge.

»Vielleicht Palas Leichnam bestaunen? Da kommst du zu spät, ich habe sie bereits begraben«, fiel ihm der Alte ins Wort.

»Nein … ich … Ihre Katze ist schon tot?«

»Pala war nicht meine Katze. Sie gehörte niemandem! Oder gehörst du vielleicht deinen Eltern?« fuhr Raphael ihn an. Er schwieg einen Augenblick, seufzte dann schwer und sagte ruhiger: »Ja, sie ist tot. Gestern Nacht ist sie gestorben.« Er blickte aus dem Fenster. »Wer bist du eigentlich?«

»Mein Name ist Alejandro. Ich bin der Sohn des –«

»Schon gut, schon gut, wer dein Vater ist, interessiert mich gar nicht. Habe ich nach deinem Namen gefragt oder nach seinem?«

Alejandro senkte den Kopf. Doch lange konnte er sich nicht beherrschen: »Sagen Sie, warum haben Sie so lange mit niemandem gesprochen und sind dann zur Ärztin gegangen?«

Nach einer Weile meinte der alte Mann: »Vielleicht, weil ich auch nur ein Mensch bin.«

Auf Alejandros etwas ratlose Miene seufzte er leise, stand auf und ging zum Herd. »Willst du einen Tee? Das könnte etwas länger dauern.« Und während er Wasser erwärmte, begann er: »Zuerst solltest du wissen, dass ich nichts gegen die Menschen habe. Damals, als meine Frau starb, hatte ich das Gefühl, dass der Arzt nicht alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Sie hatte Krebs und er kam bereits mit hoffnungsleeren Augen. Ich glaube«, sagte er nachdenklich und sah durch eines der staubigen Fenster hinaus, »sie war das einzige, was ich je geliebt habe. Immer, wenn ich ihr das gesagt habe, lachte sie nur leise. Sie hat vieles geliebt. Das Meer, die Tiere… Es war schwer für sie, alles hier zurückzulassen und ich versprach ihr, mich um alles zu kümmern. Vor allem um Pala, die sie liebte, wie ich es von ihr nie erfahren durfte. Dann starb sie. Und ich tat alles, um ihrem Wunsch gerecht zu werden.

Und nach und nach … begann auch ich diese Dinge zu lieben. Ich lebte zwischen Wasser, Tieren und Steinen. Mit den Menschen aus dem Dorf wollte ich nichts mehr zu tun haben. Sie hielten mich für verrückt, weil ich sie mit einem Huhn oder einem Stein gleichstellte. Ich lebte im Rhythmus der Natur und passte mich an.«

Bei diesen Worten drehte er sich zu Alejandro um. Dieser hatte ihm aufmerksam zugehört und runzelte nun leicht die Stirn. »Aber warum haben Sie dann die Ärztin geholt und es nicht einfach geschehen lassen?«

Schwerfällig ging Raphael zu seinem Bett und setzte sich.

»Damals, als meine Frau starb, hat sie mich gebeten, nicht den Arzt zu holen. Doch ich konnte nicht einfach zusehen! Ebenso ging es mir bei Pala. Ich habe sie beide geliebt und verloren.«

Bei diesen Worten hielt er abermals inne und ein Lichtstrahl auf seinem Gesicht ließ es noch faltiger wirken.

»Was ich dir eben erzählt habe, war die Theorie, nach der ich zu leben versuchte. Doch irgendwo erreicht jeder den Punkt, wo er diese dem Wind überlassen muss. In meinem Fall der Liebe wegen.«