Elia Stieger (18)

Anselm

Ich stehe auf, gehe duschen und betrachte mich im Spiegel. Ich sehe einen gesunden Körper und doch ist mir nicht wohl dabei. Wir frühstücken. Die Butter aufs Brot zu schmieren funktioniert problemlos, denn meinen Händen sind schon im Mutterleib je fünf Finger gewachsen. Aber ich bin mir sicher: Schon damals muss etwas schief gelaufen sein.

Meine kräftigen Beine tragen mich die Treppe hinunter, über den Parkplatz vor unserem Haus zu meinem Fahrrad. Sechsmal die Woche radle ich zur Schule, hin und zurück. Mit flauem Magen betrete ich das Klassenzimmer, setze mich in die vorderste Reihe. Da sitzt niemand außer mir, weil ich »abartig« sein soll. Von den Bänken hinter mir dringen Sprachfetzen an mein Ohr. »Psycho« und »Spinner« höre ich deutlich heraus, der Rest ist mir egal. Sie urteilen, ohne mich zu kennen, ohne jemals mit mir gesprochen zu haben. Ich sitze hier, weil ich ihre Blicke nicht ertrage – ihre vergiftete Sprache habe ich zu ignorieren gelernt, sie peinigt mich nicht mehr. Dennoch wird die Mauer, die mich von der Außenwelt trennt, immer höher: Ein Wort, ein Ziegelstein mehr; ein Blick, ein Quader dazu.

Als der Unterricht beginnt, teilt die Lehrerin die Prüfungen von letzter Woche aus. Vor meinem Pult bleibt sie stehen, lächelt gütig auf mich herab und sagt: »Gut gemacht, Anselm.«

Nickend möchte ich mich bedanken, bringe es aber nur fertig, aufzuatmen. Ich spüre, wie der Unmut in der Klasse gefährlich brodelt. Ich, das Monster, oder schlichter noch »der da«, wird gelobt, die anderen bleiben vergessen – sie ertragen es nicht, hinter einem Etwas zurückzubleiben.

Da, ich höre sie wieder, die Beleidigungen. Ich schaue aus dem Fenster, da ich es auch nicht ertrage, auf der anderen Mauerseite zu stehen; einsam, allein. Habe ich heute schon gesprochen? Ich kehre in Gedanken zum Frühstück zurück. Die ganze Familie sitzt um den Tisch herum. Sie redet. Ihren Mündern entströmen viele Worte – aus meinem kam nichts als Stille.

Am Ende der großen Pause laufe ich zum Klassenzimmer und horche auf, als ich unverwandt von einem Mädchen mit rotem Haar angesprochen werde.

Sie nennt ihren Namen und möchte wissen, ob sie hier richtig sei.

Ich nicke. Helena, man hatte sie uns bereits angekündigt.

Wir betreten das Zimmer, woraufhin sie sich neben mich setzt und versucht, ein Gespräch zu beginnen. Ich will etwas sagen, mich mit ihr unterhalten, doch es kommt nichts. Betreten schweigen wir uns an, unfähig, wie ich bin. Als der Rest unserer Mitschüler erscheint, wechselt sie den Platz. Ich bin alleine, schon wieder.

Helena fragt, was mit mir los sei.

»Der kranke Typ da redet nie, er ist nicht richtig im Kopf!«, antwortet Daniela.

Mich fragen sie nicht, ich bin durchsichtiger als Luft. Die Schulglocke erlöst mich vom Getuschel, hastig verlasse ich die Klasse.

Als ich nach Hause radeln will, steht Helena vor mir. Ihr Grinsen macht mich nervös. Was will sie? Mich verspotten?

»Du sprichst nicht viel, was?«

Geraume Zeit verstreicht.

»Nein …« Nun erleichtert, grinse ich zurück.

Sie nickt langsam und tritt näher, meine Unsicherheit wird größer.

»Immerhin redest du weniger Scheiße als die andern.«

Ich bin überrascht, und während wir uns mustern, läutet die Kirchturmuhr. Ich muss gehen, öffne meinen Mund, da ich mich verabschieden will: Doch bleibe ich stumm. Die Worte sind in meinem Kopf eingesperrt.

»Du musst nach Hause, richtig?«

Beschämt nicke ich, sie tritt mir aus dem Weg. Am Ende des Schulhofes halte ich und schaue zurück. Sie winkt – und meine Lippen hauchen tonlos ein »Danke«.