Sabrina Thurnheer (18)

Das Haus der alten Dame

Fernab der Hektik und des Lärms der Stadt stand einsam ein altes Haus. Weit und breit war kein anderes Haus mehr zu sehen, und es wirkte schon fast so, als sei das Haus von den anderen Häusern verstossen worden. Von der stattlichen Villa, welche es einmal gewesen war, war nicht mehr viel zu sehen. Das verbitterte Haus fristete sein trostloses Dasein in einem weitläufigen Garten, welcher von einem rostigen Eisenzaun von der Aussenwelt abgeschirmt wurde. Der Garten war so ungepflegt und heruntergekommen wie das Haus selbst. Die hübschen, kleinen Beete waren hoffnungslos von wilden Dornenranken überwuchert, die aber ihrerseits auch schon lange verdorrt waren. Selbst die Kletterrose, deren Ziel es einst gewesen war, die Hausmauer zu erklimmen, hatte kurz unter dem obersten Fenster aufgegeben. Ihre Blätter waren braun und dürr geworden. Lediglich eine Efeupflanze versuchte noch, über den Zaun aus dem Garten hinaus zu wachsen, als wolle sie ihm auf diese Weise entfliehen. Das Deprimierende daran war, dass ihre Wurzeln immer im Garten bleiben würden.

Durch eine schwere Eichentüre trat man ins Innere des Hauses. Vereinzelt fielen Sonnenstrahlen durch die schmutzigen Fensterscheiben und bildeten schmale Bahnen aus Licht auf dem Parkettboden. Ein enger, düsterer Flur führte zum grössten Zimmer des Hauses; dem Wohnzimmer. Dort sass die alte Dame die meiste Zeit des Tages in einem Schaukelstuhl. Besuch bekam sie eh so gut wie nie. Die alte Frau wurde von allen immer nur »die alte Dame« genannt, da niemand wusste, wie sie eigentlich hiess. Mittlerweile hatte sie sogar selbst ihren Namen vergessen. In diesem Stuhl sass sie fast den ganzen Tag, während sie ihren müden Blick durch den Raum schweifen liess. Immer öfter blieb er an einigen gerahmten Schwarzweissfotos hängen, welche auf dem Flügel thronten.

Das erste Bild zeigte die alte Dame als kleines Mädchen mit Zöpfen und einem übermütigen Lachen im Gesicht. »Kleiner Wildfang« hatten ihre Eltern sie damals genannt. Das nächste Foto war eine Aufnahme von ihr als junge Frau mit langen Locken und einer anmutigen Figur. An diesem Tag hatte sie ein leichtes Sommerkleid getragen, welches ihrem Körper schmeichelte und ihn an den richtigen Stellen betonte. Ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der Stupsnase, sowie dem sinnlichen Schmollmund konnte durchaus als schön bezeichnet werden.

Die alte Dame seufzte. Ihre Schönheit war inzwischen verblasst, ihre glänzenden Augen ausdruckslos trüb geworden. Die alte Dame vermied es, die letzte Fotografie anzusehen. Seit Jahren hatte sie das Foto nicht mehr betrachtet. Es zeigte die alte Dame als Jugendliche mit zwei Freundinnen im Park. Sie sassen auf einer Picknickdecke und lächelten den Fotograf kokett unter ihren breiten Sonnenhüten hervor an. Unterdessen lebte keine dieser Freundinnen mehr, sie waren alle schon lange gestorben.

Seufzend erhob sich die alte Dame aus ihrem Stuhl. Sie schlurfte bedächtig in Richtung Treppe, wobei jeder ihrer Schritte Staub aufwirbelte. Die Treppenstufen ächzten unter ihren schweren Schritten, als würden sie unter der Last aufschreien. Zwischendurch hielt die keuchende Dame kurz inne, um sich an dem hölzernen Geländer abzustützen.

In den Treppenabsatz mündete ein weiterer, düsterer Korridor ohne Fenster. Die feuchten Tapeten an den Wänden verbreiteten einen modrigen, abgestandenen Gestank. Zielstrebig öffnete die alte Dame die erste Tür zu ihrer Rechten. Alle anderen Zimmer im Obergeschoss standen seit dem Tod ihres Mannes leer. Die alte Dame hatte diese Räume nie wieder betreten.

In ihrem Schlafzimmer ging sie langsam zum Fenster und betrachtete wehmütig durch die trüben Scheiben den vernachlässigten Garten. Mit einem Mal erblickte sie etwas, das sie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder lächeln liess. Die Kletterrose unter ihrem Fenster trug eine einzige, rubinrote Blüte.