Regina Rieger (19)

Nachtsicht

Was oder ob sie geträumt hat, weiß sie nicht mehr. Alle Traumbilder sind ausradiert. Nun hält sie den Atem an, lauscht, was sie geweckt haben könnte. Die Wanduhr tickt. In der Ferne rattert ein Güterzug vorbei. Sie holt tief Luft.

Die Zimmerdecke ist grau. Trotz der Dunkelheit nimmt sie die Linien, die auf die Ecke zulaufen, scharf wahr.

Der rechteckige Lichtfleck auf ihrer Bettdecke ist ungewöhnlich hell. Vielleicht hat der Vollmond sie geweckt. Sie richtet sich auf und fährt die Konturen des Lichtflecks auf dem Frottee-Stoff mit ihrer Hand nach. Bis zu seiner Decke, die aus dem Rechteck unförmige Wellen macht.

Diagonal liegt er im Bett. Verdreht. Ihm ist der Kopf fast bis auf die Schulter gerutscht. Unter der Decke sieht ein Arm hervor. Den Mund hat er leicht geöffnet, dass die Lippen sich beim Ausatmen bewegen.

Scheinwerferkegel malen einen Halbkreis an die Wände und lassen die Schatten zurück gleiten, lenken ihren Blick auf das Bild an der Wand gegenüber. Sie hat es selbst gemalt. Mit ihrer eigenen Vase als Vorlage. Ihm hat es so gut gefallen, dass er es rahmen ließ und er es im Schlafzimmer aufgehängt hat. Doch ihr ist bald danach der Unterschied zwischen der schlanken Glasvase und der regelmäßigen Form auf der Leinwand aufgefallen. Ihr Blick tastet die Umrisse der gemalten Vase ab. Sie sind kantig, scharf. Kurz zieht sie ihre Augenbrauen zusammen. In der Grauschattierung der Vase sieht sie durchsichtiges Blau aufblitzen. Das Gelb und Orange der Blumen drängt durch das Dunkel an ihre Augen, lässt die Blüten aus dem Bild heraustreten.

Ruckartig schlägt sie die Decke zurück und steht auf. Ganz nah geht sie an das Bild heran, bis sie die Kälte des Glases an ihrem Gesicht spürt und die Blumen zurückweichen. Sie tritt einen Schritt zurück, schließt für einen Moment die Augen und atmet tief durch. Dann hebt sie ihre Arme, nimmt das Bild vom Nagel. Ihr Rücken spannt sich. Sie stellt das Bild auf dem Boden ab und dreht es um. Über ihre Schulter sieht sie zu ihm. Die hellen Wellenlinien haben sich kurz bewegt, liegen wieder ruhig da. Sie fasst den Rahmen an beiden Seiten, zittert, als sie ihn anhebt und mit dem Draht nach dem Nagel sucht. Sie muss ihn gefunden haben. Denn das Bild wird leichter. Sie löst ihren Griff. Das Bild fällt zu Boden.

»Was is los?« Er schreckt auf. Hat die Augen weit geöffnet. Zwischen seinen Brauen hat sich eine Falte gebildet.

»Ich wollte das Bild umdrehen.« Sie wendet sich nicht zu ihm um.

»Mitten in der Nacht.« Er runzelt die Stirn. »Was hast du denn?«

»Ach, nichts.«