Maria von Krbek (19)

Gezeichnet

Am Piccadilly Circus stieg ich aus der U-Bahn, ging die schmutzige Treppe zum Eros-Brunnen hinauf. Noch eine halbe Stunde. Ich war zu früh. Meine Touristen waren noch nicht hier, nicht einmal die anderen Reiseleiter.

Ich hätte noch einmal meine Aufzeichnungen für den Rundgang durch Soho überfliegen können, oder mir einen Cappucino holen. Ich entschloss mich für ein Stück Pizza.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit waren genug Menschen unterwegs, um sogar den Blick auf die Fußgängerampel zu verdecken. Sie waren damit beschäftigt, sich nicht versehentlich zu berühren. Mit der Menge überquerte ich die Straße.

Links neben dem Pizza-Imbiss bauten sich drei Uniformierte drohend vor einem Bettler auf. Er hatte sich zwischen zwei Geldautomaten niedergelassen. Das Spiel, das immer gleich ausging: Den einen verjagten sie, und der Nächste freute sich wenige Minuten später über den freien Platz.

Dieser Bettler verstieß gegen die ungeschriebenen Regeln. Er weigerte sich, aufzustehen. Zwei der Polizisten packten ihn an je einem Arm. Ich wurde von der Menge weiter in seine Richtung gedrängt. Und meinte, an seinem Mund Andrews Narbe wiederzuerkennen.

An einem Nachmittag vor vielen Jahren legt in Hamburg meine Fähre nach England ab. Zum ersten Mal trete ich ohne meine Eltern eine Reise ins Ausland an, mein Schulenglisch im Kopf und Reiseführer im Gepäck.

Alle Passagiere, die an Deck sind, blicken entweder zurück auf den sich entfernenden Hafen oder hinaus auf die Nordsee, die unser Schiff aufnimmt. Außer mir. Ich kann nicht anders, als den Mann zu betrachten, der sich neben mir an die Reling gestellt hat. Mit geschlossenen Augen in einem jungen, harten Gesicht. Eine Schweißperle hat sich in der Narbe verfangen, die senkrecht in der Mitte durch seine Oberlippe verläuft. Eine Windböe fährt durch seine schulterlangen braunen Locken, und ich schäme mich für meinen ordentlichen blonden Zopf. Ich löse ihn, obwohl ich denke, dass es ein vergeblicher Versuch sein wird, seine Aufmerksamkeit zu erlangen.

Aber eine andere Windböe schlägt einen Teil meines offenen Haars gegen seinen dezent tätowierten, nackten Oberarm. Als er die Augen öffnet, spreche ich ihn leise an: »Entschuldigung.«

Am Abend folgt Andrew meiner Einladung in die Einzelkabine, die mein Vater für mich gebucht hat. Er hält sein Versprechen, das er mir vor einer Stunde gegeben hat: Zeichnet mit Henna das gleiche chinesische Schriftzeichen auf die Innenseite meines Oberschenkels, das auf seinen Oberarm tätowiert ist. Der Pinsel hinterlässt eine warme Spur auf meiner Haut.

Später sitzen wir uns im Schneidersitz gegenüber auf dem Bett in meiner Kabine. Viele Stunden lang haben wir erst über Belanglosigkeiten gesprochen, dann über mich. Meine Eltern, meine Schule, was ich mir von dem halben Jahr als Aupair in Datchet erwarte. Andrew erzählt nichts von sich, und ich weiß nicht, wie ich ihn fragen soll.

Also lege ich meine Lippen auf sein rechtes Augenlid, sein Schlüsselbein, seinen Bauchnabel. Aber als ich meine Arme leicht um seine Hüften lege, greift er nach meinen Händen und legt sie zurück in meinen Schoß. Die Leichtigkeit seiner Bewegung staucht meine Fingerknöchel. Ich will den Schmerz überspielen und den Eindruck, etwas falsch gemacht zu haben.

»Was ist mit dir, Andrew? Erzähl mir von dir.«

»Naja, ich schlage mich so durch.«

»Wie? Ich weiß von dir nur, dass du siebenundzwanzig Jahre alt bist und zur Zeit nichts lieber machst, als Henna-Tattoos zu entwerfen, und du erwartest, dass ich verstehe, was du mit durchschlagen meinst?!?«

»Ich mache mal diese und mal jene Geschäfte, und sehe, dass es eben zum Leben reicht.«

Ich habe Andrews ausweichende Antworten satt.

»Was denn für Geschäfte?«

»Das würdest du nicht verstehen, Mädchen.«

Bisher hat mir die Tonart gefallen, in der er mich Mädchen genannt hat. Nun macht es mich wütend.

»Dann nimm mich mit und zeig es mir, dein Leben.«

Andrew versucht vergeblich, seine Belustigung zu unterdrücken. Mein Mund ist trocken, mein Rücken steif. Sein Lachen erschlägt mich.

»Ich gehe jetzt besser«, sagt er, und schließt zögernd die Tür meiner Kabine hinter sich.

Die Polizisten zerrten den Mann hoch. Den Mann, der aussah wie Andrew. Die Narbe in der Oberlippe, braune Locken, kurzgeschnitten mit grauen Strähnen. Ein schmutziger Körper in löchrigen Hosen und einem T-Shirt, das seine Oberarme bedeckte. Einen Moment lang wollte ich an ihm die Tätowierung finden. Ihn aus den Händen der Polizisten befreien. Ihnen sagen, dass das mein Mann sei. Dass ich mich um ihn kümmern und er nie wieder Ärger machen würde. Aber einmal, als ich sechzehn gewesen war, hatte jemand mich daran gehindert, über meinen eigenen Schatten zu springen. Seitdem war es mir nie gelungen, bis zu diesem Tag nicht. Stattdessen drehte ich mich weg, ging wie benommen zurück über die Kreuzung.

Ich setzte mich an den Brunnen, dessen Eros-Statue seit Jahren der Pfeil fehlte, und wartete auf meine Touristen. Hungrig würde ich sie durch Soho führen.