Klara Jiranek (15)

Gilbert

Gilbert flog über das Erdbeerbeet. Seine Augen leuchteten. Da hinten waren schon die anderen Fliegen. »Hallo, ich bin Gilbert. Kann ich mitspielen?« Voller Erwartung blickte er in die Runde.

Fünf verdutzte Gesichter starrten ihm entgegen, aber nach einigem Zögern meinte eine besonders athletische Fliege: »Ja, wenn du meinst … wir spielen fangen.« Und schon stoben alle Fliegen auseinander.

Graue Leiber umschwirrten Gilbert, und das Summen und Brummen war ohrenbetäubend. Gilbert wurde schwindlig, und er musste sich auf einem Blatt ausrasten. Sofort streiften ihn ein paar verächtliche Blicke. Wieder dieser Stich im Herz. Er hatte das Gefühl, immer ausgestoßen zu werden. Immer war er zu langsam oder zu schwach. Nur mit Mühe konnte er eine Träne unterdrücken, als die Fliegengruppe ohne ein Abschiedswort abschwirrte.

Eine Weile saß er so da, surrte ab und zu mit den Flügeln und beobachtete traurig, wie die Kirschblüten von den Bäumen geweht wurden. »Die werden vom Wind nach Belieben herumgeschubst …so wie ich von den anderen …« Plötzlich unterbrach ein durchdringendes Sirren seine Gedanken, und er blickte sich verwundert um. Insgeheim hatte er gehofft, eine der Fliegen sei zurückgekommen, aber enttäuscht musste Gilbert feststellen, dass bloß eine Gelsendame am Blatt neben ihm Platz genommen hatte. Eigentlich war sie ganz nett anzuschauen mit ihrem zierlichen Körper, aber Gelsen waren nicht seine Sache. Sie wirkten so zerbrechlich …

»Ich heiße Gerlinde. Hallo. Und wer bist du?« Während sie ihn so fragend anblickte mit ihren hübschen, schmalen Gelsenaugen, machte sie einen anmutigen Hüpfer auf sein Blatt.

Er wich etwas zurück. »Gilbert. Ich muss dann gleich wieder los …« Er fühlte sich nicht ganz wohl bei der Sache.

Sie rückte immer näher …

»Was denkt sie sich dabei?!« ärgerte sich Gilbert.

»Na gut, wenn du Lust hast, können wir uns ja später treffen. Ich bin ohnehin den ganzen Tag am Schilfsee. Bis dann …« Und weg war sie.

Gilbert atmete auf. Pfff … Eine Verabredung mit einer Gelse, das fehlte ihm noch! Er schwirrte los und ließ sich vom Wind zum Parkteich tragen. Auf einem Seerosenblatt sitzend fielen ihm wieder die Fliegen ein, und das Herz wurde ihm abermals schwer. Seufzend blickte er ins Wasser.

Plötzlich stutzte er. Auf der Wasseroberfläche, direkt unter ihm, saß ein Insekt. Aber das konnte doch nicht sein! Vorsichtig streckte er seinen dünnen Fuß nach vorne und schreckte zurück. Sein Fuß hatte klares, kühles Wasser berührt, das Tier war aber immer noch da! Ein Spiegelbild, ja! Das war die Lösung! Teilte er sich etwa das Seerosenblatt mit jemand anderem? Aber da war niemand! Und er selber?! Nein, das konnte nicht sein! Da waren ein Saugrüssel, wie bei einer Stechmücke, und ein dünner, beinahe durchsichtiger Körper! Die Erkenntnis traf ihn wie ein mächtiger Wassertropfen!! Er – eine Gelse?! Gilbert wurde schwindlig. Das konnte einfach nicht sein! Das DURFTE nicht sein! Er war zwar erst einige Tage alt, aber schon immer der Überzeugung gewesen, eine Fliege zu sein … Vielleicht lag es daran, dass er seine Eltern nie kennengelernt hatte.

Gilbert musste sich setzen … »Und ich habe mich schon gewundert, warum sich Gerlinde so für mich interessiert … Armes Ding! Ich hätte sie nicht abwimmeln sollen …« Gilbert war verwirrt und traurig, aber er wollte sofort zum Schilfsee. Zu Gerlinde.

Er war so sehr in Gedanken versunken, dass er den großen Schatten hinter sich und die rosarote Zunge, die blitzartig hervor schnellte, nicht bemerken konnte …