Klara Jiranek (15)

AUGEN-BLICK

An der Kreuzung machte sie Halt. Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich das Geschäft betreten und das wunderschöne Paar rote Schuhe kaufen. Sie hörte die Geldscheine in ihrer Hosentasche knistern und ein Glücksgefühl stieg in ihr hoch. Plötzlich fiel ihr Blick auf den gegenüberliegenden Gehsteig. Dort saß ein Mann in einem Rollstuhl, der Kopf war auf die Seite gesunken, die Mundwinkel hingen herab, und seine Augen blickten ausdruckslos in die Ferne.

Da musste sie sich an letzten Dienstag und den Schulausflug erinnern. Ziel war das Behindertenheim gewesen, aber das gesamte Projekt hatte sie nicht wirklich interessiert. Sie beschäftigte sich nie gerne mit dem Schicksal anderer Menschen, und in Gegenwart von Personen, die in irgendeiner Weise anders waren, wirkte sie angespannt und nervös. Sie wusste einfach nicht, wie sie sich zu verhalten hatte und was man von ihr erwartete. Auch damals in dem Heim hielt sie sich im Hintergrund und wich allen Blicken aus. Sie fühlte sich nicht zuständig und verantwortlich für diese Menschen, dachte, es ginge sie nichts an. Sich darüber Gedanken zu machen, war ihr überhaupt zu mühsam und unangenehm.

Auch jetzt, als die Ampel auf Grün sprang, fühlte sie sich nicht wohl. Was sollte sie tun? Sollte sie überhaupt IRGENDETWAS tun?? Wieder diese Beklemmung … Als der Mann auf einer Höhe mit ihr war, trafen sich ihre Blicke. Direkt in ihre Augen blickte er, ohne zu blinzeln. Und sie erwiderte diesen Blick und zog unwillkürlich die Mundwinkel nach oben … verkrampft. Aber die Augen des Mannes leuchteten plötzlich auf und auch er lächelte. Da entspannte sich ihr Gesichtsausdruck und für einen Augenblick lang sahen sie einander bloß in die Augen, und die Menschen und Autos rundherum waren unwichtig geworden. Aber bevor sie sich noch über diesen schönen und doch seltsamen Moment wundern konnte, war er auch schon wieder vorüber. Das Bild des lächelnden Mannes im Rollstuhl jedoch hatte sich bei ihr eingeprägt. Für kurze Zeit verzauberte sie dieser Augenblick, und sie war zufriedener mit sich selbst und ihrem Leben.