Anne Jentsch (20)

Nach Hause

»Die Monster dort, diese riesigen Bagger, das sind Abräummaschienen. Unter der Erde liegt Kohle«, sagte Mato und kickte gegen einen Stein. Seine Schuhe quietschten. Er schüttelte seinen Fuß und polierte seine Schuhspitze am anderen Hosenbein. Dabei verlor er fast das Gleichgewicht. Er wippte ein wenig auf und ab. »Ich weiß gar nicht, wann ich zum letzten Mal hier war.« Mato deutete auf einen der braunen Hügel. Alle Hügel dort waren braun. Auf ihnen wuchs noch nicht einmal Gras. Sie bestanden aus Steinen und Sand. Die Maschienen hatten die Erde so zurückgelassen, nachdem die Braunkohle durch Förderbänder abtranspotiert wurde.

»Ein Geheimnis sage ich dir. Dahinten parkt ein Mondfahrzeug«, schmunzelte Mato. »Mein bester Freund Kosmo hatte es für mich gebaut, damals. Der Sitz war ein Ziegelstein.« Mit zwei Fingern zeigte Mato auf den Hügel. Er ließ die linke Hand auf der Wange ruhen. »Später hatte ich dann ein echtes Moped. Das konnte jeder sehen. Kosmo hatte aber als einziger von uns Jungs einen richtigen Sturzhelm. Er wollte Kosmonaut werden, hat die Erde aber nicht verlassen.« Mato hustete. Auf seiner Faust klebte blutiger Schleim. Er zog ein Taschentuch hervor und wischte seine Hand daran ab. »Tschuldigung.«

Er tupfte die Schweißperlen von der Stirn und steckte den Stoff wieder ein. Durch die dünne Haut seiner Schläfen schimmerten die Äderchen blau. »Kosmo war auch Baggerfahrer. Wenigstens hatte er hier seinen Mond, wenn auch auf der Erde.« Mato grinste breit. An seinen Wangen bildeten sich tiefe Grübchen. »Kosmo und die Mondlandschaft. Ja, war schon ein verrückter Kerl, der Kosmo. War der einzige von uns Jungen, der einen Sturzhelm mit Visier hatte. Außerdem war er immer der Schnellste. Und nie hatte Kosmo Fliegen zwischen den Zähnen. Aber wir waren schon auf den Geschmack gekommen.« Er fuhr mit der Zunge über die Schneidezähne. »Mato, du Fliegenfresser, mit dir geht’s in die Hölle.«

Mato zog mich in Richtung Dorf. Seine Hand fühlte sich kalt an. Ich fürchtete, ich könnte sie zerdrücken. Weiße Flocken wirbelten durch die Luft.

Mato wich einer Schlammpfütze aus. Seine Schritte waren kurz. Mein Freund trat sehr vorsichtig auf. Seine Füße berührten kaum den Boden. Obwohl es schneite, lief er auf Zehenspitzen.

Er fragte mich, ob ich wisse, was er träume. Von gefräßige Insekten. Er höre sie schmatzen. Die Erde würde stöhnen. Sie sei verwundet. Männer in weißen Kitteln kämen. Sie würden ein Totentuch über die Mondlandschaft legen.

Dann schwieg Mato. Mechanisch zog er die Mundwinkel nach oben. Es war kein Lächeln. Seinen Kieferknochen hatten ihn verraten. Sie waren etwas herausgetreten.

Die Kirchturmglocke im Dorf schlug Mittag. Wir gingen die Dorfstraße entlang. Diese einzige Straße war ein sandiger Weg. Die Schlaglöcher waren mit Lehm und Kies aufgefüllt. Zwei Autos könnten nicht neben einander fahren. Zwei Mopeds schon.

Ich hatte ihn untergehakt. Eigentlich hätte ich Mato lieber getragen, denn er atmete mühsam. Unter unseren Füßen knirschten Steinchen. Links und rechts der Straße waren Bäume und Sträucher. Schwarze Finger, die ins Leere griffen. Es gab also noch Pflanzen.

Kahle Bäume sind lautlos. Das Schaufeln der Bagger war ein Rauschen. Mato legte die Hand hinter seine Ohrmuscheln. »Hörst du das auch?«

»Ja!« – ich hatte nichts gehört.

Der Wind schickte uns Staub in die Gesichter. An meine Ohren schwappten ungewöhnliche Laute. Das hatte Mato also gemeint. Wir hörten dumpfes Trommeln und Klappern. Dazwischen war ein seltsames Weinen. Eine rhythmische klagende Melodie.

Mato hielt sich an meinem Arm fest. Mir kam es so vor, als würde er leicht zittern. »Horch! Das ist ja das Zampern! Das machen nur junge Leute. Mensch, dass hier noch welche wohnen!« Mato hatte sein großes rotes Tuch aus der Tasche gezogen. Geräuschvoll schnäuzte er sich die Nase. Danach faltete er das Tuch wieder zusammen. Er steckte es in die Manteltasche. »Junge Sorben zampern. Zampern ist, wenn man sich verkleidet und durchs Dorf zieht. Das ist ein Frühlingsbrauch. Ich dachte, hier ist nix mehr mit dem Sorbischen.« Mato hatte seine Augen geschlossen. »Es gibt sie noch.« Er hatte es zu sich selbst gesagt. Tiefe Freude war eine ernste Sache. »Schau, das sind sie.«

In der Ferne zeichneten sich Figuren in verschwommenen Konturen ab. »Zuerst kommen immer die Musikanten.« Mato umklammerte meinen Arm. Er atmete schnell und flach. »Danach meistens die Dämonen und danach als Frauen verkleidete Männer.« Matos Lippen waren dunkel. Sein Gesicht wirkte bläulich. »Der Schimmelreiter wird eine Birkenrute halten. Er symbolisiert den vertriebenen Winter.« Mein Freund klang heiser. Er lockerte seine Umklammerung. »Ein Storch und ein Bär werden den Eierkorb tragen. Das ist die Fruchtbarkeit. Ein Mann wird als Frau mit dem doppelten Gesicht gehen. Seine Masken bedeuten Vergangenheit und Zukunft.«

Mato stand auf Zehenspitzen. Ich stützte ihn. »Wenn sie jemanden treffen, sperren sie die Straße. Sie lassen uns nicht durch. Wir müssen uns freikaufen. Hol bitte die Geldbörse aus meiner Manteltasche. Ich brauche einen Geldschein.«

Mato faltete einen braunen Schein auseinander. »Beim Zampern gibt man großzügig. Das bringt Glück. Die Jugend bezahlt heute Abend mit dem gesammelten Geld ihre Feier. Sie werden heut Abend zusammen essen und tanzen.« Nachdem er den Schein glatt gestrichen hatte, faltete er ihn ähnlich einer Ziehharmonika zusammen. Er schob das Papier in seinen Hemdärmel. »Die Dorfjugend zampert, um den Frühling zu begrüßen.« Die Grübchen in Matos Gesicht wirkten noch dunkler. Unter den Augen bemerkte ich Schatten. »Zampern ist ein alter Brauch. Sie feiern bis zum frühen Morgen gemeinsam und laden sogar die Jungverheirateten zur letzten Jugendfeier ein. Das Zampern gehört zum Frühling, wie das Grün auf den Feldern.«

Ich versuchte, die Figuren auf der Straße zu erkennen. Sie waren zu weit entfernt von mir. Die Kapelle spielte einen Trauermarsch. Das war die Verabschiedung des Winters. Die Musikanten hatten blaue Jacken mit angesteckten Stoffbändern an. Und Blumen aus farbigem Papier an den Krägen. Kurze bunte Bänder flatterten von ihren Hüten. Ein Musikant trug eine Klarinette, einer spielte Querflöte. Hinter den Musikanten stiefelten schwatzend ein Cowboy, eine Krankenschwester, zwei Indianerinnen, Donald Duck, ein Clown, ein Kater und ein Bauarbeiter. Ihnen folgte eine Horde mit Klappern lärmender Kinder. Eine blonde Indianerin und ein schlaksiger Bauarbeiter sperrten mit einer Wimpelkette die Straße. Der Bauarbeiter setzte seinen Helm ab. Das war die Sammelbüchse.

Es schneite nur noch leicht. Das Orchester spielte einen Tusch. Mato trat in die Mitte der Straße. Er begann eine kurze Rede auf sorbisch zu halten. Dabei zog er unauffällig den Geldschein aus dem Ärmel und verbarg ihn in der linken Faust. Er wippte beim Reden. Als er geendet hatte, zauberte er den Geldschein aus der Handinnenfläche und legte ihn in das Plastikgefäß. Die Menge applaudierte. Die blonde Squaw entsperrte eilig die Straße.

»Ich habe nicht verstanden, was Sie gesagt haben. Trotzdem vielen Dank. Ich hoffe, es gefällt Ihnen in Deutschland.« Mato biss sich auf die Lippen. Der Bauarbeiter trat der Indianerin auf den Fuß. »Du, ich glaube, das war Sorbisch!« Mato schloss die Augen.

Die Zampernden hatten es plötzlich eilig. Die Musikanten nahmen ihre Instrumente auf. Die Klarinette spielte eine Mazurka, das Akkordeon eine Polka, der Dudelsack einen einzigen Ton, die Trompete einen Tusch, und die Querflöte wusste scheinbar nicht, was sie trillern sollte, denn die anderen Musikanten lärmten alle gleichzeitig. Sie zogen links und rechts an Mato vorbei. Die Jugendlichen nickten ihm stumm zu. Der Bauarbeiter lüftete seinen Helm, und der Cowboy zog seinen Hut. Sie zogen schweigend davon.