Irene Deubelbeiss (14)

Vakuum

Der Raum war stockdunkel, man sah die Hand vor Augen nicht. Er selbst war es nicht, was fremd und furchteinflössend wirkte, es war die Dunkelheit, die die Konturen verhüllte, und der Fremdkörper im Raum, ein kleines, einsames Wesen, kauerte sich in der hintersten Ecke zusammen. Jedenfalls nahm es an, dass dies die hinterste Ecke war, da es in der Finsternis nichts erkennen konnte, aber nichts hätte es dazu gebracht, sich zu erheben und das herauszufinden. Es hatte den Kopf in den Armen vergraben und hielt die Augen fest geschlossen. Es spürte den weichen Stoff des Baumwollkleides, das seine Wimpern berührte und die Augenlider kitzelte. Seine Finger hatten sich fest in den weiten Ärmeln verkrallt, die, wie es spürte, knapp bis über die Ellbogen reichten. Es fühlte ebenfalls, wie seine Fingernägel sich tief ins Fleisch gruben. Es wusste nicht, wie lange es schon so da sass, doch es musste schon sehr lange sein, denn der Schmerz war schon nicht mehr fühlbar, so sehr war das Wesen inzwischen an den Schmerz gewöhnt, den die Fingernägel verursachten, die durch die Haut gedrückt waren.

Auch das Zittern, das es noch vage in Erinnerung hatte, war schon vor langer Zeit verschwunden; vielleicht hatte es sich auch nur daran gewöhnt. Das wusste es ebenso wenig, wie, woher denn das Zittern gekommen war.

Kälte?

Angst?

Oder … Hass?

Es bewegte sich ein wenig, kauerte sich noch mehr zusammen. Das tat es von Zeit zu Zeit, weil sich in seinem Innersten doch noch die Angst regte, dass die Glieder absterben könnten, wenn es sie niemals mehr bewegte. Was, wenn vielleicht doch noch jemand kam, Licht in die Dunkelheit brachte, und das Wesen dann nicht mitgehen konnte? Selbst konnte es das nicht tun. Wie sollte es auch zum Licht kommen, hätte es dafür doch durch die bedrohliche Dunkelheit hindurch gehen müssen. Bei dem Gedanken verstärkte es den Druck der Fingernägel instinktiv noch mehr und biss die Zähne zusammen. In die Dunkelheit? Wer wusste schon, welche Gefahren dort lauern konnten!

Das Wesen hörte ein knarrendes Geräusch. Einen kurzen Augenblick zögerte es. Sollte es den Kopf heben? Vorsichtig drehte es das Gesicht ein wenig der Seite zu, aus der das Geräusch gekommen war, und lugte vorsichtig über den Rand seines Armes hinweg. Es glaubte, einen schmalen Lichtschein zu erkennen, doch es war sich nicht sicher; zu lange war es her, dass es Licht gesehen hatte, als dass es noch mit Sicherheit hätte sagen können, was denn Licht wirklich war.

Doch die Neugier, einmal geweckt, wollte gestillt werden, und so wagte es, den Kopf noch ein kleines bisschen höher zu heben. Es glaubte, schemenhafte Umrisse von Etwas zu erkennen, doch es konnte nicht sagen, was es denn war.

Was machst du denn hier?

Die fremde Stimme klang überrascht. Das zusammengekauerte Wesen in der Ecke war nicht weniger überrascht. Es zuckte zusammen, erschrocken darüber, nach so langer Zeit plötzlich wieder Worte aus einem menschlichen Mund zu vernehmen. Es vermochte nicht, zu antworten. Was, wenn diese Stimme wieder nur ein Hirngespinst war? Nur hier, um es zu quälen und auszulachen? Es hatte so lange nicht mehr gesprochen … Wer konnte denn sagen, ob es nach der langen Zeit überhaupt noch eine Stimme besass? Im Hals war nur ein taubes, trockenes Gefühl, und zum ersten Mal seit langer Zeit versuchte es, einer plötzlichen Eingebung folgend, zu schlucken. Es fühlte, dass sich in seinem Hals etwas bewegte, dass Haut aneinander rieb und dass es kratzte. Doch selbst darüber war es mehr als froh. Wenigstens wusste es jetzt, dass es noch nicht körperlos und schmerzunempfindlich geworden war.

Doch sprechen? In welcher Sprache überhaupt? Welche Sprache hatte es früher gesprochen, fragte sich das Wesen. Denn vielleicht hatte es die Sprache verlernt, konnte keine Sprache mehr sprechen, nur verstehen.

Wie geht es dir denn?

Die Stimme, die so plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war, liess sich offenbar nicht so einfach abschrecken … Es atmete tief ein. Was sollte es sagen?

Gut …, sagte es schliesslich, hörte die Lüge aus den eigenen Worten sprechen. Es hoffte inständig, die Stimme würde die Lüge erkennen. Gut.

Seine eigene Stimme hatte einen Klang wie rostige Eisen, die aufeinander schabten, doch es war immerhin eine Stimme, wenn sie auch nicht so wunderbar rein und gleichzeitig leise und sanft klang, wie die andere, fremde, die lindernd über die Stille zu streichen schien.

Langes Schweigen. Hatte die fremde Stimme, der Schatten, der dazu gehörte, die Lüge doch nicht herausgehört? Das Wesen war unschlüssig.

Oder …, setzte es dann nochmals an, Vielleicht geht es mir doch nicht so gut …

Es wartete auf die Antwort, doch es kam nichts. Lange, lange Zeit wartete es, bis es sich endlich dazu überwand, aufzublicken.

Die Welt, das Zimmer, der Raum, das Leben, die Umgebung war wieder dunkel, der Schatten verschwunden. Es schüttelte den Kopf.

Hirngespinst.

Es legte den Kopf zurück in die schützenden Arme und kniff die Augen erneut zusammen.

Seine Finger gruben sich wieder ins Fleisch.