Marion Brugger (14)

Abgeschossen

»Zur Seite!« schreit ihr jemand laut ins Gesicht.

Verwirrt macht sie einen Schritt nach links. Sie stolpert, steigt auf etwas Weiches.

»Aua! Pass doch auf, du Idiot!« Hasserfüllte Blicke werden ihr zugeworfen.

Sie hasst die Turnhallen. Zwei Stunden in der Woche muss sie dort verbringen. Völkerball spielen.

Der Ball kommt neben ihr zu liegen. Sie sieht den Ball an, rührt sich nicht.

Soll sie ihn jetzt aufheben?

Irgendjemand stößt sie zur Seite. Sie hält sich mit verzerrtem Gesicht eine Hand an ihre Rippen. Der Schmerz pocht in ihrem ganzen Körper.

Sie will sich auf den Boden fallen lassen, bleibt aber stehen.

Lächelt. Warum?

Das weiß sie nicht. Sie starrt nach oben.

Die Decke aus dunklem Holz wirkt beruhigend auf sie.

Ein wenig erinnert sie sie an früher. Sie glaubt zu wissen, eine alte Spieltruhe aus demselben dunklen Holz gehabt zu haben.

Ja, an diese Zeit denkt sie gerne zurück.

Alles war immer so ruhig und unbeschwert gewesen, eine heile Welt. Sie denkt an ihr kleines Zimmer, auf das sie immer schon stolz gewesen war.

Damals, im Kindergarten, hatte jedes Kind sie um ihr eigenes Zimmer beneidet.

»Verdammt, lauf doch weg!«

Das Geschrei rundherum reißt das Mädchen aus ihren Gedanken.

Sie steht in der Mitte des Spielfeldes.

Alle aus ihrer Mannschaft sind abseits und rufen auf sie ein. Der Ball saust an ihr vorbei. »Lauf weg!« rufen einige aus ihrer Mannschaft.

»Fang den Ball!« schreien die anderen.

»Links rüber!«

»Nein, rechts!«

In ihrem Kopf dreht sich alles. Ein Junge mit verschwitztem Hemd und feuchten Haaren zielt auf sie. Er hält den Ball fest in den Händen. Seine Augen haben sich zu schmalen Schlitzen verengt. Plötzlich beginnt er höhnisch zu lachen.

Oder bildet sie sich das nur ein?

Sie dreht sich um.

Überall sieht sie nur noch lachende, spottende Grimassen.

Hilflos wendet sie ihren Blick zur Decke.

Doch auch das dunkle Holz grinst. Lachen, Schreie, laut – zu laut.

Etwas Hartes trifft auf ihren Bauch.

»Ab!« brüllt die gegnerische Mannschaft.

Ihr Bauch schmerzt noch stärker als ihr Rücken. Sie verliert das Gleichgewicht und fällt zu Boden.

»Ab!« schreien ihre Klassenkameraden.

Das Geschrei wird lauter, undeutlicher.

Sie presst beide Hände an ihre Ohren.

Lange liegt sie auf dem kühlen Boden, will alles um sich herum vergessen.

Das Geschrei erstirbt allmählich. Die Mannschaften verlassen den Raum, der Junge mit den feuchten Haaren bleibt vor ihr stehen. Er sieht sie an, legt die Stirn in Falten. Sie blinzelt, lächelt. Errötet. Der Junge verdreht die Augen, spukt. Die Spucke landet auf ihrer Wange. Das Lächeln auf ihren Lippen erblasst. Der Junge wendet sich von ihr ab, verlässt die große Halle. Noch lange hört sie seine Schritte am Gang. Bis auch diese verstummen. Sie bleibt allein zurück.

Das dunkle Holz lacht nicht mehr.

Es wirkt wieder friedlich – beruhigend. Sie starrt an die Decke. Ein Lächeln umspielt ihre dünnen Lippen, während ihr Tränen über die Wangen laufen.