Selina Bruderer (14)

Zu spät

Krücke setzen – Bein nachziehen – Hüpfer – kurze Pause – erster Schritt. Krücke setzen – Bein nachziehen – Hüpfer – kurze Pause – zweiter Schritt. Krücke setzen – Bein …- Wie staubig hier alles ist. Staubig und trostlos. Die abgestorbenen Bäume am Rande dieses Weges und die junge, alt gewordene Frau mit ihrer Krücke unterstützen dieses Bild nur noch. Ja, wie gut sie in dieses Bild hinein passt.

Früher war das auch schon so. Doch früher, ach früher war einfach alles anders. Aber sie hat keine Zeit, nachzudenken, sie muss sich konzentrieren, nicht dass wieder, wie – Nein! diese Strasse ist ja sicher. Sie ist keine Waldlichtung, und kein Asaf weit und breit.

Asaf! Für ein paar Sekunden schien der alte Schimmer in ihre Augen zurückgekehrt. Doch nein, schon wurde er von dem gleichgültigen Blick zurückgewiesen, ausdruckslos, nichts sagend. Krücke setzen – Bein nachziehen – Hüpfer – kurze Pause – fünfter Schritt. Langsam lässt sie den Blick über die zerfallenen Häuser schweifen und über den vielen Staub zu ihren Füssen. Trostlos ist alles geworden, trostlos staubig und leblos. Sie war hier einmal glücklich gewesen, früher, da hatte sie Hoffnung gehabt, früher, ja früher, da hat sie noch gelebt. Früher! Voll Abscheu spuckt sie auf den Boden.

Früher ist vorbei, vorbei, vorbei. Krücke setzen – Bein nachziehen – Hüpfer – kurze Pause fünfzehnter Schritt. Fünfzehnter Schritt? Noch siebzig Schritte. Leise stöhnt sie auf. Alles hatte so hoffnungsvoll angefangen. Sie war frisch verheiratet, glücklich, voller Übermut. Ja, verändern wollte sie alles, die Menschen dieses Dorfes, dieses Land, ja am liebsten die ganze Welt!

Zuerst fingen sie in kleinen Schritten an, gingen in die nächstliegenden Häuser, versuchten, die dortigen Menschen von ihrer Sache zu überzeugen. Und es gelang! Das heisst, tatsächlich scharten sie ein kleines Grüppchen von Aufständischen um sich, neun oder zehn vielleicht, doch für sie beide war’s mehr als genug. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie wirklich glücklich. Doch all zu schnell wurde ihr alles wieder weggenommen, mit dem Tod ihrer Eltern. Ihre Mutter erschossen mit dem Vorwurf, sie, eine hochgeachtete, bekannte Ärztin, sei eine Prostituierte gewesen. Ihr Vater brachte sich kurz darauf selbst um.

Darauf fühlte sie nur Trauer, Angst und Einsamkeit. Verlor sich darin. Liess sich treiben. Asaf holte sie zurück, bewegte sie dazu, weiterzukämpfen. Ja, sie gaben nicht auf, sie kämpften noch energischer, mit neuem Antrieb.

»Autsch, ich blöde Kuh, jetzt wäre ich beinahe gestolpert!« murmelte sie leise vor sich hin. Krücke setzen – Bein nachziehen – Hüpfer – kurze Pause – fünfzig, äh, fünfundfünfzigster Schritt. Ja, konzentrieren musste sie sich jetzt, konzentrieren, nicht denken. Doch es gelang ihr nicht. Die Gedanken fanden immer wieder eine kleine Ritze, die sie schamlos ausnützten.

Schon wieder drang so ein kleiner, nett Aussehender ein. Ihr Sohn. Ja, sie hatte ganz zu erwähnen vergessen, dass sie schwanger war. Erneut kehrte dieses trügerische Glück zurück. Wieder wurde sie herausgerissen, denn der Kampf begann. Der Kampf, daran wollte sie nicht denken, die Erinnerungen daran waren viel zu schmerzhaft. »Nein, nun musst du es mal durch denken, musst damit abschliessen!« ermahnte sie sich selbst.

Sie waren losgezogen mit ihrer kleinen Gruppe, waren zu den anderen gestossen. Alle sangen sie Kampflieder, es war eine gute Stimmung, alle waren sie berauscht vom Singen und vom Gedanken an den Sieg. Asaf, gerade mal ein halbes Jahr alt, hatten sie zuhause gelassen. Sie jedoch bestand darauf, mitzugehen, sie wollte kämpfen für ihr Volk, für seine Zukunft.

Doch nichts kam so, wie sie es gedacht hatten. Die Amerikaner kamen nicht. Ein hoffnungsloser Kampf begann. Blut, überall Blut, daran erinnerte sie sich. Leute, die schrieen. Leute, die starben. Maschinengewehre, die erbarmungslos weiterknatterten. Asaf packte sie an der Hand. Er zog sie mit, quer durch die Menge. Einmal stand sie mit dem Fuss auf etwas Weichem. Sofort wandte sie den Kopf nach unten. Direkt blickte sie in zwei kastanienbraune, ausdruckslose Augen. Nur einige hundertstel Sekunden lang. Doch es genügte, um sich das Bild des verstümmelten Kopfes für immer in ihrem Gedächtnis einzuprägen.

Asaf zerrte sie weiter, in den Wald hinein. »Die Minen!« schoss es ihr durch den Kopf. Jedes Kind wusste, dass dieser Wald vermint war. Doch er zog sie weiter, und sie liess es willig geschehen. Sie liefen durch den Wald. Wie lange? Sie wusste es nicht mehr. Sehr lange war es ihr vorgekommen. Auf einmal spürte sie eine gewaltige Explosion. Dann Stille. Vollendete Stille.

Irgendetwas zog sie zurück in diese Welt. Sie wollte nicht, doch es geschah. Da lag sie wieder, neben ihr ihr Mann. Blutverschmiert. Tot. Sie wusste es sofort, noch bevor sie ihn ansah, und ihr eines Bein fühlte sie auch nicht mehr.

Sie klammerte sich an den Gedanken, an ihren kleinen, friedlich schlafenden Sohn, fest. Zog sich an diesem Rettungsseil die wenigen Meter nachhause. Doch dort war kein Sohn, nur Schmerz erwartete sie.

Ach Asaf, dein Leben war viel zu kurz. Deine Mutter konnte dir nicht mehr helfen. Als sie heimkam, warst du schon lange tot, lagst in irgendeinem Massengrab, zusammen mit Tausenden anderen. Ohne Grabstein. Ohne alles.

Krücke setzen – Bein nachziehen – Hüpfer – kurze Pause – fünfundachtzigster Schritt. Sie war da.

Zitternd stand sie in dem Laden, wartete auf ihre Bestellung. Händigte ihr Geld aus, packte die Esswaren in ihren Beutel. Dann wandte sie sich um. Sie sah das Bild Saddam Husseins. Doch jemand hatte es in der Mitte durchgerissen.

Ja, die Amerikaner waren noch gekommen. Doch für sie und ihre Familie war es zu spät. Jahre zu spät.

Krücke setzen – Bein nachziehen – Hüpfer – keine Pause – letzter Schritt.