Selina Bruderer (14)

Tanz der Schneeflocken

Elegant tanzen die Schneeflocken durch die Luft. Zu tausenden wirbeln sie herum. Lautlos kommen die feinen Kristalle am Boden auf. Das zarte Licht der Sonne an diesem Wintermorgen beleuchtet ihren Tanz, lässt sie funkeln.

Still steht Marissa in der Mitte der Wiese. Sie hält die Augen geschlossen, wendet ihr Gesicht gegen den Himmel.

Die Schneeflocken verfangen sich in ihrem langen blonden Haar, kitzeln ihre Nase.

Sie steht einfach nur da, unfähig zu denken, geschweige denn, sich zu bewegen. Allmählich legt sich der Sturm, der in ihrem Innern tobt. Die schäumende See mit der spritzenden Gischt wird zu einem ruhigen Gewässer, dessen Wellen sanft hin und her wiegen.

Nun erst begreift sie, was geschehen ist. Verstehen kann sie es nicht. Doch immer mehr schleicht sich die Erkenntnis ein.

Lina kehrt nicht mehr wieder, nie wieder. Marissa weiss es.

Langsam nistet sich der Gedanke in ihrem Kopf ein. Sie will ihn nicht, stösst ihn weg, doch er kommt wieder, immer und immer wieder.

Tränen rollen über ihr bleiches Kindergesicht. Geräuschvoll schnäuzt sie sich die Nase.

Sie sinkt zu Boden, drückt ihre Hände auf ihre mandelbraunen Augen.

Die Tränen fallen von den Händen herab in den Schnee, jede einzelne hinterlässt ein kleines Loch im luftigen Weiss.

Klar sieht sie die Bilder der letzten Stunde vor sich. Die Mutter, wie sie weinte, der Doktor, wie er bedauernd den Kopf schüttelte, ihren Vater, der kreidebleich auf seinem Stuhl sass, und ihre kleine Schwester Lina.

Schon am Vortag hatte Lina über leichte Bauchschmerzen geklagt. Marissa weiss noch genau, wie sie sich bei der Mutter beschwert hatte, weil Lina bei der Küchenarbeit nicht mithelfen musste. Richtig neidisch war sie auf die Kleine gewesen, die einfach in ihrem Bett liegen bleiben durfte, während sie der Mutter beim Zubereiten des Brotteigs helfen musste. Ja, die Kleine wurde von ihrer Mutter sogar noch verwöhnt, dieses Gör nutzte ihre Krankheit, und schob alle ihre Aufgaben auf Marissa ab.

Sogar Marissas Lieblings-Schokolade hat sie bekommen, dieses Biest.

Sie war so wütend, dass sie der Kleinen sogar den Tod an den Hals wünschte.

Niedergeschlagen drückt sie ihren Kopf in den weichen Schnee.

Die Kälte tut gut. Sie ist so nüchtern, holt einen zurück in diese Welt.

Doch ein Bild verschwindet nicht, das Bild von Lina.

Bleich war die Kleine. Marissa dachte, sie würde nur schlafen, so friedlich, wie sie wirkte.

Eine ihrer schwarzen Haarsträhnen hing ihr ins Gesicht. Marissa war ganz verzaubert vom Anblick ihrer Schwester, vergessen war die Wut, als sie dem zarten Geschöpf ins Gesicht schaute. Regungslos sass sie neben dem Bett. Verlor sich in den sanften Gesichtszügen.

Später fragte sie sich, warum sie nicht gesehen hatte, wie steif Lina war. Sie wusste es nicht.

Sie wollte Lina aufwecken, berührte dazu ihren Arm. Erschrocken zuckte sie zurück. Wie kalt ihre Schwester war! Besorgt strich sie ihr die schwarze Haarsträne aus dem Gesicht, rief ängstlich ihren Namen. Doch Lina reagierte nicht. Regungslos lag sie da, einem Engel ähnlicher, als je zuvor. Völlig durcheinander, rief Marissa ihre Mutter, hetzte aus dem Zimmer und rannte in die Küche, wo diese das Brot buk.

Sofort rief die Mutter einen Arzt. Das Warten begann.

Doch der Arzt kam nicht. Es fing an zu schneien. Immer dichter purzelten die Schneeflocken vom Himmel. Marissa sass am Fenster, beobachtete die Schneeflocken. Ins puppenhaft weisse Gesicht von Lina konnte sie nicht schauen. Sie ertrug es nicht. Lina starb. Schlief einfach so ein, ohne dass sie etwas hätten tun können. Kein Arzt war gekommen, Marissa verfluchte den Schnee.

Mutter erklärte Marissa ausführlich, wie gut es Lina jetzt gehe, dass sie im Himmel sei und Gott Lina zu sich geholt hätte. Danach schwieg Marissa lange. Schliesslich murmelte sie: »Warum sagst du nicht, dass sie tot ist und dass sie jetzt in die Erde kommt, wo sie von den Würmern gefressen wird?«

Darauf begann Mutter zu weinen.

Inzwischen hat es aufgehört zu schneien. Das zarte Weiss hat sich über die Felder gelegt, der Tanz ist zu Ende.