Anna-Maria Bauer (14)

Schicksal

»Glaubt ihr eigentlich an Schicksal?« fragte Anja in die schweigende Runde.

Es war bereits nach elf, als die fünf Freunde die Pizzeria verließen.

Eigentlich hätten sie ja zuerst zum Chinesen gehen wollen, aber der hatte montags immer Ruhetag. Also hatten sie ins nächste Dorf zur Pizzeria fahren müssen, was Rick gar nicht entzückt hatte. Ich muss um zwölf daheim sein«, hatte er gejammert. »Wenn ich zu spät komme, killt mich meine Mutter.«

Nachdem sie dann in der Pizzeria köstlich gespeist hatten, wobei Babsi leider doppelt so lang hatte warten müssen, weil ihre Pizza verbrannt war, hatten sie dann auch noch den Bus verpasst.

»Ich habs ja gewusst«, hatte Rick gestöhnt, worauf Rita nur die Augen verdreht hatte. Der nächste würde erst in einer Dreiviertelstunde kommen, also hatten sie beschlossen, sich zu Fuß auf den Heimweg zu machen.

»Was? Sorry, ich hab g’rad nicht zugehört«, erwiderte Tobi, der Kleinste der Gruppe, und wahrscheinlich der Kleinste in seinem Alter, was oft Anlass für Spott gab.

»Ob ihr an das Schicksal glaubt«, wiederholte Anja ungeduldig. Sie hasste es, wenn man ihr nicht zuhörte, weil das für sie bedeutete, dass man sie nicht beachtet hatte.

»Du meinst, dass es vorherbestimmt ist, wenn jemand gerade in dem Moment bei jemanden anruft, der sich gerade umbringen wollte?« erkundigte sich Rick und kickte eine Dose, die vor ihm auf dem Gehsteig gelegen war, weg.

»Ja, so was in der Art«, bestätigte Anja und vergrub die Hände tiefer in der Jackentasche, um sie zu wärmen. Eisiger Wind wehte und durchdrang selbst dicke Winterjacken.

»Vielleicht war es ja Schicksal, dass uns der Bus davongefahren ist«, alberte Babsi.

»Ach was, so eine Kleinigkeit ist dem Schicksal doch wirklich egal. Aber bei was Wichtigerem kann ich mir schon vorstellen, dass es vorherbestimmt ist«, meinte Tobi.

»Und was ist, wenn ich mir eine schwere Lungenentzündung hole und schwer krank werde, dann ist es keine Kleinigkeit mehr«, erwiderte Rita.

»Ja, Rita, was meinst du dazu?« wollte Anja wissen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Rita, die nicht einmal an Gott glaubte, – was Anja ganz und gar nicht verstehen konnte – an etwas wie Vorherbestimmung glaubte.

»Warum nicht«, entgegnete Rita unerwartet und lachte, als sie die verblüfften Gesichter ihrer Freunde sah. »He, Leute, nur weil ich nicht daran glaub, dass irgend so ein Maxi einmal gepustet hat und – peng – auf einmal war da Leben auf der Erde, wo vorher nichts war, muss das noch lang nicht heißen, dass ich an eine höhere Kraft glaube.«

»Also, ich glaub’ nicht an Schicksal«, verkündete Babsi. »Warum ist uns denn der Bus davongefahren? Warum wird’ ich immer ertappt, wenn wir in der Schule tratschen? Warum ist meine Pizza fast verbrannt? War das vorherbestimmt?«

»Nein, Babsi, du verstehst das falsch.«

»Was versteh ich falsch, Anja? Du hast leicht reden, du Streber.«

»Oh, nimm das zurück!«

»He, streitet euch nicht.«

»Ach, sei ruhig, Knirps!«

»Oh Scheiße«, unterbrach Rita die beiden Streithähne. »Ich hab’ mein Handy in der Pizzeria vergessen.

»Das ist nicht dein Ernst«, fuhr Rick sie an. Wir latschen zwanzig Minuten durch Eiseskälte, und du kommst plötzlich drauf, dass du dein Handy vergessen hast. Super, Klasse. Ich muss ja eh erst in einer Viertelstunde daheim sein. Perfektes Timing.«

»Jetzt schraub mal wieder runter, klar! Ich hab’s ja nicht mit Absicht gemacht.«

»Und was machen wir jetzt?« wollte Babsi wissen.

»Na was wohl? Wir gehen zurück und holen es. Was schlägst du denn vor?«

»Und Rick?«

»Rick muss selber entscheiden, was er tut«, schlug Anja vor. »Entweder, er geht mit uns und kommt etwas zu spät. Oder er geht allein weiter und ist rechtzeitig bei seiner Mami.«

»Mensch, du kennst meine Mutter nicht. Die rastet aus, wenn ich nicht pünktlich bin. Es tut mir leid, aber ich kann nicht mit euch zurück.«

»Tja, das ist wohl Schicksal«, witzelte Tobi und erhielt dafür von Rick einen verächtlichen Blick.

»Ich geh mit dir«, erklärte Babsi. »Man kann dich doch nicht ganz allein durch Nacht und Nebel gehen lassen.«

»Oh ja«, spottete Rita. »Dem kleinen Bubi könnte ja was zustoßen.«

»Wahnsinnig witzig. Komm Babsi, wir gehen.« Damit legte er seinen Arm um ihre Taille, und einträchtig verschwanden sie in der Dunkelheit.

»Liebe macht echt blind«, fassungslos schüttelte Anja den Kopf. »Was Babsi an dem bloß findet.«

»Wenn wir uns beeilen, erwischen wir dieses Mal vielleicht sogar den Bus zurück. Dann werden sie staunen, wenn wir gleichzeitig ankommen.« Rita grinste verschmitzt.

Quatschend marschierten sie die Landstraße zurück bis zum Ortskern, wo gleich neben dem Greißler eine Pizzeria aufgemacht hatte. Ein richtiger Luxus, für so ein verschlafenes Nest, hatte Tobi gemeint.

Es gab doch noch ehrliche Menschen, stellte Rita zufrieden fest. Ein älteres Ehepaar hatte das Handy gefunden und bei einem Kellner abgegeben.

»Junge Dame, wir können Ihnen nicht, mir nichts dir nichts, ein Handy geben, wenn wir nicht einmal wissen, dass es wirklich Ihnen gehört.«

»Entschuldigung, aber woher, bitte schön, könnte ich denn wissen, dass gerade heute jemand ein Handy vergessen hat. Oh natürlich, Sie haben mich entlarvt. Ich bin eine Spionin, die jeden Abend nur darauf wartet, das jemand sein Handy vergisst um nachher als dieser Jemand dann das Handy zu klauen. Wie brillant!«

»Wie schaut es denn aus?«

»Viereckig, klein, mit Tasten und einem Bildschirm«, meinte Rita sarkastisch und trieb den Kellner damit fast zur Verzweiflung.«

»Sehr witzig, junge Dame. Wollen Sie nun Ihr Handy wieder haben, oder nicht.«

»Ist ja schon gut. Es hat Orangen d’rauf. Zufrieden?«

Widerstrebend rückte der Kellner endlich mit dem Handy heraus.

»Sehr freundlich«, bedankte sich Rita und verschwand schnell wieder aus dem Restaurant, nicht ohne die Tür heftig zuzuschlagen.

Sie hatten so lange mit dem Kellner diskutiert, dass ihnen der Bus inzwischen wieder davongefahren war.

»Das Schicksal meint es nicht gut mit uns«, alberte Tobi.

»Witzbold.«

Schweigend und zähneklappernd stapften sie dahin. Hin und wieder brauste ein Auto an ihnen vorbei, sonst war es ruhig. Der Weg schien sich endlos lange dahin zu ziehen.

»Da muss ich diese Woche wenigstens nicht mehr ins Fitnessstudio«, meinte Tobi. »Ich hab nie gewusst, dass dieser Hügel zwischen den zwei Dörfern so hoch ist.«

»Und wie lang der Weg ist!«

Als sie fast den Gipfel des Hügels erreicht hatten, schoss wieder ein Auto an ihnen vorbei, blieb dann plötzlich mit quietschenden Reifen ungefähr hundert Meter vor ihnen stehen. Die Beifahrertür wurde geöffnet und etwas herausgeworfen, dann brauste das Auto mit aufheulendem Motor wieder weiter.

»Was hat der da rausgeworfen?« fragte Anja.

»Keine Ahnung.« Rita rannte los. »Aber das werden wir gleich wissen.«

Kurz darauf standen alle drei um einen kleinen, mit einem Strick zugebunden Leinensack herum. Das Etwas darin winselte und bewegte sich.

»Sollen wir schauen, was drinnen ist?«

»Nanoned! Natürlich!« rief Rita und beugte sich hinunter, um den Knoten zu lösen.

»Nicht! Vielleicht ist was Gefährliches drinnen, das dich beißen wird, wenn du aufmachst.«

»Ach was«, erwiderte Tobi.

Geschickt löste Rita die Schnur und öffnete vorsichtig den Sack. Und heraus kam … ein Hundebaby!

»Süß«, rief Anja verzückt.

»Oh, wie gefährlich! Pass auf, er könnte dich zerfleischen!«

»Oh, er ist noch ganz jung. Ich zeig in am besten meinem Papa. Solche Notfälle ist er gewohnt.«

»Das war wirklich Schicksal«, erkannte Tobi.

»Was?«

»Na das. Stell dir vor, Rita hätte ihr Handy nicht vergessen. Dann wären wir nie zurückgegangen und nie um diese Zeit an der Stelle vorbeigekommen. Und dieser Hund wäre wahrscheinlich gestorben.«

»Und da soll Babsi noch einmal sagen, dass es kein Schicksal gibt«, triumphierte Anja.

»Kommt«, drängte Rita. »Wir müssen uns beeilen, dem kleinen geht’s ganz schlecht.

In Höchstgeschwindigkeit legten die drei den restlichen Teil der Strecke zurück, während sich Anja die ganze Zeit einen Namen für den Kleinen überlegte, bis sie schließlich auf Lucky kam.

Rita verdrehte die Augen.

»Na, er hat doch Glück gehabt, oder?«

»Immer diese Verenglischung«, höhnte Tobi.

»Na, Glücky wär’ doch ein bescheuerter Name«, fand Anja.

Und so blieb es bei Lucky.