Susanne Alice Scherm (14)

Neuanfang

»I, M, L«, sagt sie.

Der Blick fällt auf die Tafel. Erstaunen in der vordersten Bank des Klassenzimmers. Es ist fast leer. Das Mobiliar ist zu niedrig, für Sechs- bis Zehnjährige geschaffen. Und nun sitzen hier Erwachsene über 30. Außer ihr gibt es noch vier weitere Deutsche, eine Polin und die Lehrerin. Nacheinander lesen sie vor. Das kann jeder, die lächerlichen drei Buchstaben.

Gestern gelernt. Die Polin kann sie schon schreiben. Und sie, die in der vordersten Bank sitzt, tut sich schwer. Sie spürt das Mitleid, das ihr die anderen entgegenbringen, doch sie will es nicht. Bis zum Abend kann sie auch schon die nächsten Buchstaben, D, E, H, lesen und schreiben. Für die Unterschriften müssen noch die durchgestrichenen Kreise reichen, aber es ist ein Anfang.

Nach dem Verlassen des Raumes ist sie wieder ein erwachsener Mensch, 37. Erwachsen bis zur nächsten Bushaltestelle. Das Lesen der Buslinien ist noch unmöglich. Bis wohin hätte sie auch die Fahrkarte lösen müssen? Die Passanten fragen? Niemals. Besser die Strecke laufen, bis zur Straße ohne Namen.

Neben ihr hält ein Auto mit gelbem Nummernschild. Der Beifahrer blickt aus dem Fenster. Sie läuft weiter, versucht das Auto zu ignorieren. Der Beifahrer ruft ihr etwas zu, hält eine Landkarte mit Straßennamen in den Händen. Die Scham ist zu groß. Sie verleiht ihrer Stimme einen russischen Akzent. Die einheimische Ausländerin. Das Auto fährt weiter.

Zu Hause angekommen hat sie noch die Buchstaben im Kopf. In der Wohnung steht jedoch nur die Fibel. Am Morgen ist Zeit zu lernen. Die neuen Buchstaben, immer in Dreierhäppchen, ähnlich wie die Sechsjährigen in der ersten Klasse. Sie lernt weiter. Überlegt sich Wörter mit den von ihr gelernten Schriftzeichen.

Dennoch Kochen, nach Gefühl. Die einzige Unterhaltung am Abend nach dem Kurs ist der Fernseher. Heute flimmert er sehr stark, sodass das Bild kaum zu erkennen ist. Das macht er in letzter Zeit öfter. Die Bedienungsanleitung hat sie schon vor einem Jahr in den Müll geschmissen.

Später beim Einkaufen versucht sie, die Artikelbezeichnungen zu lesen, orientiert sich dann aber an den Bildern. In einem der Nebengänge fragt jemand die Verkäuferin nach einem bestimmten Produkt. Sie hätte es nicht gewusst. Nicht auf allen Verpackungen sind Bilder. Sie bezahlt, weiß aber nicht genau wofür.

Der Fernseher flimmert zu stark, sie hat kein Geld für einen neuen. Den Job im Café hat sie verloren, weil sie von einer Kollegin bloßgestellt wurde. Indem ihr der Notizzettel herunterfiel und jeder sehen konnte, dass sie nur Bildchen malte. Die Kollegin machte ihre Bemerkung, während der Chef daneben stand. Sie wurde gefeuert, bevor sie den Vertrag überhaupt hätte unterschreiben können.

Sie geht jeden Abend in den Kurs, braucht einen Monat, um das Alphabet auswendig zu lernen und die Buchstaben zu schreiben. Aber über ein halbes Jahr, um das Schreiben eigener Texte zu lernen. Einen Tag vor der Prüfung macht sie einen Stopp am Kiosk. Sie kauft eine Zeitung, schon im Voraus für den nächsten Tag.

Dann die Prüfung. Sie sitzt an ihrem Tisch. Erst das flaue Gefühl im Magen, dann die völlige Übelkeit. Stotternd bringt sie einige Worte hervor, dann bricht sie ab. Falsche Betonung. Für das Kontrollieren eines Fehlertextes benötigt sie eine halbe Stunde zu viel. Sie hat Hitzewallungen. Den eigenen Text kann sie nur in Eile schreiben, von Fehlern übersät. Das Resultat: durchgefallen. Die Polin hat’s geschafft. Zwei Deutsche waren schon vor Wochen gegangen. Eine Vorstellung, vor der sie Angst hatte: niemals gut lesen und schreiben zu können.

Sie läuft die Strecke bis nach Hause, denn sie hat keine Lust mehr zu lesen, ist mutlos. Zu Hause, in der Straße ohne Namen, in der Wohnung ohne Bücher, mit der Fibel im Müll. Sie ist wieder die einheimische Ausländerin mit russischem Akzent. Doch nach dem Finden der gestern gekauften Zeitung in ihrer Tasche und dem Lesen der Überschriften holt sie auch die Fibel wieder aus dem Müll. Zeit für einen Neuanfang.

»I, M, L«, sagt sie.