Sabine Schönfellner (15)

Erkenntnis

Träge lag sie auf dem Dachgiebel, alle viere von sich gestreckt. Die weißen Ohren zuckten von Zeit zu Zeit, ihnen schien nichts zu entgehen. Die Schwanzspitze klopfte unregelmäßig auf die Ziegel, führte ein seltsames Eigenleben.

Für gewöhnlich war sie nachts unterwegs wie alle ihre Artgenossen, doch heute war sie zu müde.

Ein Rascheln in der Dachrinne drang an ihre Ohren, unendlich langsam öffnete sie die Augen. Ihre Pupillen waren fast rund, nur so konnte sie in der Dunkelheit etwas erkennen.

Zu dem Rascheln kam ein Trippeln, sofort war klar, dass es sich nur um eine Maus handeln konnte.

Behutsam und leise stand sie auf, streckte sich. Die Maus bewegte sich weiter, stieß an Blätter. Sie konnte den Nager sogar schnüffeln hören.

Vorsichtig setzte sie eine Pfote vor die andere, ließ dabei ihr Opfer nicht aus den Augen. Ihre Barthaare vibrierten, sie duckte sich immer tiefer.

Knapp vor der Dachrinne stoppte sie, die Maus genau vor Augen. Sie konnte schon fast spüren, wie sie die Krallen hineinschlug.

Mit einem einzigen Satz war sie über der Maus, packte zu. Plötzlich stieß die Maus ein Fiepen aus, das dem einer jungen Katze verblüffend ähnlich war.

Obwohl es schon lange her war, dass sie Junge gehabt hatte, erinnerte sie sich und wusste nicht, ob sie nun eine Maus oder einen Artgenossen gepackt hatte. Ein zweites Fiepen – entsetzt ließ sie los, taumelte und fiel über die Dachkante.