Nada Dzubur (15)

Am Bahnhof

Der Himmel war grau und bewölkt. Ich saß an einer Haltestelle und grübelte. Es war alles schon so lange her und trotzdem ließ es mich nicht los.

Die Leute eilten an mir vorbei, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Ich beobachtete sie und sah trotzdem nichts. Es waren verschwommene, fliegende Körper ohne Gesichter. Es war kalt, doch ich spürte keinen Schmerz. Die Kälte in meinem Herzen war viel schlimmer als diese herbstlichen Launen. Wann hatte ich angefangen, mich so gehen zu lassen? Ich wusste es nicht, aber es muss lange her gewesen sein.

Seitdem jedenfalls ist es in meinem Leben nicht sehr vorangegangen, eher zurück. »Lass die Vergangenheit endlich ruhen und genieße das hier und jetzt!«, hatten sie mir gesagt, doch ich konnte nicht. Zu tief saß der Schmerz, zu tief die Enttäuschung. Die Anderen ließen mich kalt, ich wollte nur ihn.

Straßenbahnen fuhren vorbei. In regelmäßigen Abständen änderten sich die Farben vor meinen Augen. Grau, grellgrün, grau, dunkelblau, grau, purpurrot. Alles so verschwommen.

Wie schön es doch damals gewesen war! Er hatte meine Wange gestreichelt und mir ein leises »Ich liebe dich.« ins Ohr geflüstert. Wie glücklich ich doch gewesen war! Ich zuckte zusammen. Für einen Moment lang hatte ich das Gefühl seinen Atem zu fühlen.

»Entschuldigen Sie, junge Dame …?«

Eine alte Frau stand vor mir. Stumm schaute ich sie an.

»Bitte was?«

»Wann die nächste Bahn geht.«

Ich faselte etwas von Nicht-von-hier-sein und beschloss endlich zu gehen.

Wie spät es wohl war? Bin sicher stundenlang auf dieser harten Bank gesessen. Ich stand auf und blickte zur anderen Straßenseite.

Konnte es nicht glauben! Da stand er! Ich musterte ihn von oben bis unten. Wie gut er doch aussah! Es schien, dass er mich noch nicht gesehen hatte. Wie gern ich ihn doch umarmt hätte! Aber es war so viel passiert, da konnte ich das nicht so einfach. Zu viele Wörter sind durch das Zimmer geflogen, zu viele Tränen geflossen. Es war doch alles nicht so gemeint gewesen. Was sollte ich nur tun? Doch dann gab ich mir einen Ruck. So eine Chance bekommt man nicht oft. Wer weiß, ob ich ihn je wiedersehen würde …

Ich vergaß meinen Stolz und bewegte mich voller Freude auf ihn zu. Er würde mir verzeihen und ich ihm. All die grässlichen Worte und Vorwürfe würden wir vergessen!

Doch plötzlich fegte etwas an mir vorbei. Ich fühlte einen kalten Windhauch, der davon ausging. Es blieb direkt vor mir stehen.

Jetzt sah ich nur mehr Gelb. Zu spät begriffen meine müden Sinne und meine von ihm so beanspruchten Hirnzellen, dass gerade eine Straßenbahn vor meiner Nase gehalten hatte. Erst jetzt begriff ich, wie gefährlich diese Situation gewesen war. In meiner Brust klopfte es wild. Was wäre gewesen, wenn … eine Sekunde früher oder später?

Da fiel er mir wieder ein. »Scheiße, ausgerechnet jetzt!«

Ich schlug mit beiden Fäusten gegen die Bahn. »Verschwinde! Verschwinde!«

Als ich mich wieder gefangen hatte und merkte, dass es nichts brachte, rannte ich nach hinten, um an die andere Straßenseite zu gelangen. Wieso musste dieses verdammte Ding auch nur so lang sein?

Endlich war ich an meinem Ziel angekommen. Ich blickte mich um. Die Leute rauschten vorbei.

Wo war er denn? Wo war er denn nur?