Mathias Rhode (16)

Casablanca

Abend weht in den Regenbogenfahnen im Hinterhof des 60er-Jahre-Baus. Ich zögere, lehne mich an den abbröckelnden Putz. Ich werde abschätzig gemustert, von Männern auf Bierbänken, die zum Ausgang starren. Einer saugt am Hals seiner Bierflasche und wirft mir Blicke zu, leckt dann den Filter seiner Zigarette ab, schaut mich mit Grübchen in der Wange an und geht aufs Klo. Wer weiß, was er als Nächstes ablecken wird. Eine ALDI-Tüte liegt in der Ecke, Bierdeckel und Glasscherben. Es stinkt nach Pisse. Fettige McDonalds-Luft dringt von unten die Straße hinauf und hängt sich zwischen die Häuser.

Es ist nicht viel los heute, in der Bar und draußen stehen wenige, die nass werden, vom Regen.

In der Ecke zwei Männer, die sich unsanft küssen, ineinander fest beißen. Sie zeigen vollkommene Liebe – oder genau das Gegenteil davon. Als der Blonde dem anderen die Hand zwischen die Beine schiebt, lehne ich mich an die Dachrinne, die nicht nachgibt, obwohl sie verrostet ist. Es ist beinah Nacht und ich rauche Casablanca, mit weißem Filter, und habe den Ausgang im Blick, versuche das Bild verschwimmen zu lassen.

Die Stromleitungen über mir sehen aus wie Reißverschlüsse, die Himmelsstücke zusammen ziehen.

Ich schweige mich in die Nacht hinein und beobachte andere, die sich küssen, ausziehen. Der Regen zerstreut ihr Stöhnen. Es dringen nur Bruchstücke zu mir. Schmatzen, als der eine sich zurück legt und der andere den Kopf auf seinen Schoß.

Ich möchte nicht hier sein jetzt, aber dich sehen. Mir fiel kein Treffpunkt ein, dir diese Bar. Erkennungszeichen: roter Punkt im Hinterhof. Wir rauchen beide. Weiße Filter.

Männer sitzen in der Bar und beobachten mich. Ich bin um einiges jünger als das Durchschnittsalter. »Was suchst du?«, fragt mich einer, der sich neben mich gesetzt hat, ohne, dass ich es bemerkte. Ich drehe mich weg und steh auf, als er mir seine knorrige Hand zwischen die Beine schiebt. Er stellt sich hinter mich und ich fühle seinen heißen Atem im Genick, trau mich nicht, ihn wegzuschieben. Ich höre sein lüsternes Schnauben und wie er sich die Hand in die Hose steckt.

Ich will fortgehen, kann es nicht, weil ich weiß, dass du noch kommen wirst.

Dann schiebt er seine Zunge in mein Ohr und für Bruchteile von Sekunden fühle ich den nasskalten Speichel seiner pelzigen Zunge und rieche Mundgeruch. Seine Lippen sind spröde und gerissen.

Ich halte Abstand mit ausgestrecktem Arm. Ich werde ans Meer fahren, bald, aber nicht allein, nehme ich mir vor.

In der Dunkelheit und zwischen dumpfem Stöhnen, das aus den Kellergewölben dringt, sehe ich einen roten Punkt. Zigarettenglut.

Meine Casablanca stecken in der Hosentasche und ich weiß, dass nur du dieser Punkt sein kannst, der in einem anderen Himmelsstück steht als ich. Ich finde mein Feuerzeug nicht, auch den Reißverschluss zwischen uns kann ich nicht öffnen.

Als meine Zigarette dann glimmt, bin ich mir nicht mehr sicher, ob du der Punkt bist und ich gehe langsam unter der Stromleitung hindurch und stelle mich neben dich.

»Hei«. Du schaust mich an, ohne zu fragen.

Die weichen Gesichtszüge wie auf den Fotos auf meinem Schreibtisch. Du siehst mich nicht an, nur auf meine Zigarette.

»Weißer Filter?« Ich nicke.

»Wartest du schon lange?« Ich nicke wieder.

Der Wind rollt meine Asche über den Hof und ich trete einen Schritt vor, unter die Lüftung, die den Geruch der Bar nach außen bringt.

»Wollen wir gehen?«, fragst du und ich antworte nicht, kann nur nicken. Ein drittes Mal.

Wir verlassen den Hinterhof und laufen in Richtung Park. Du erzählst von dir und ich kann nur halb zuhören. Ich will dir sagen, dass du schön bist und deine schwarzen Haare gut aussehen.

Die Leberflecken auf deiner Brust sehen aus wie der große Wagen, zumindest auf Fotos. Ich möchte sie zählen und Polarsterne suchen.

Du spuckst auf das Gras Speichel. Die Casablanca stecken in meiner Jackentasche. Feuer brauch’ ich nicht, denn du rauchst auch. Dann plötzlich deine Hand auf meinem Knie und deine Lippen an meinem Hals. Du bist schön, hörst du? Deine Finger sind weich, wie sie mein Hemd aufknöpfen. Du streichst mir über die Arme, mit Druck und kratzt mich mit dem Zeigefinger. Ich fühle deine Lippen an meinem Ohr und deine Zunge. Sie fühlt sich an wie das Meer, die Wärme deiner Haut auch. Wo ich hin möchte, mit dir. Heißer Atem.

Du liest Sartre, erzählst du auf dem Weg zu mir, während ich mit meinen Fingern den großen Wagen ertaste. Meine Wohnung ist klein, zu klein für zwei und du redest nicht mehr. Das Straßenlampenlicht sickert durch die Jalousie. Deine Zunge an meinem Ohr. Nasskalter Speichel, auf einmal. Und pelzige Haut.

Ich will dich nicht lieben, weil die Matratze knarrt und das Bild meiner Großmutter auf dem Nachttisch steht.

Die Straßenlampe geht aus, als ich dabei bin, mich zu verlieren, und Licht kommt nur noch tröpfchenweise ins Zimmer. Unwirklich. Du redest von Seifenblasen mit Rauch drin.

Dumpfes Stöhnen, ich weiß nicht, ob es von dir kommt oder meiner Nachbarin.

Ich will dich nicht lieben, weil es nacht ist und deine Lippen aufgeplatzt sind und mein Schlafzimmer keine Bar ist.

Ich stehe auf, gehe ins Bad, trinke ein Glas Wasser. Du stehst in der Tür, halb nackt und das Hemd hängt über deinen solariumgebräunten, muskulösen Schultern. Ich möchte deinen Körper nicht fühlen, jetzt.

»Was ist?«, fragst du und ich schaue wortlos, trinke noch einen Schluck Wasser.

Ich will dich nicht lieben, weil ich ans Meer fahre, bald, das habe ich mir vorgenommen. Aber allein, ganz bestimmt.

Meine Casablanca stecken in meiner Hemdtasche und wir rauchen. Zigaretten. Mit weißem Filter.