Madeleine Adolf (20)

Aufgeschlagene Fenster

Wenn man mit der Straßenbahnlinie 11 fährt, kommt man an dem Haus vorbei. Man lenkt seine Augen aus dem Fenster und sieht es voller Eleganz aufragen. Es hat eine schlichte und helle Außenwand – und Fenster, die mit weißem Holz durchsetzt sind. In den obersten drei Etagen sind die Fensterflügel weit aufgeschlagen.

Es steht in einer Reihe. Am Straßenanfang taucht Paula hinter der Ecke auf. Sie drückt ihre Handfläche gegen die Mauer und rutscht damit über die Häuserfassaden, geht vor bis zu dem mit den geöffneten Fenstern. Mit der Hand am Haus bleibt sie stehen.

Der Kopf neigt sich nach hinten. Sie sieht ein Dutzend Vögel auf einem der oberen Fensterbretter. Picken Brotkrumen, von denen einige den Halt verlieren und nach unten regnen.

Plötzlich rauschende Chansonmusik aus einem alten Kassettenrekorder. Die aufgeschreckten Vögel verteilen sich im Himmel. Dazu ein halbes Mitsummen, halb Pfeifen. Ein Ellenbogen, ein weißes Hemd zeigen sich manchmal.

Sie ist losgezogen, um ihn zu sehen, Jakob. Der steht im Badezimmer. Paula presst den Zeigefinger auf den drittletzten Klingelknopf – und läuft über die Straße, versteckt sich in einer Nische zwischen den Gebäudeblöcken. Sie dreht ihren Kopf zum Fenster.

Ein halb rasiertes Männergesicht sucht auf der Straße. Jakob. »Hallo!« ruft er zweimal. Paula lächelt. Sie mag die Nase, die leicht schief ist. Er steht da und schaut. Sie glaubt nicht, dass er sie sieht.

Irgendwann ist der Kassettenrekorder aus und das Pfeifen wird leiser, verläuft sich in der Wohnung. Paula denkt an das Lied, sie schlendert singend zurück.

Straßenbahnlinie 11 schleicht am Flügelhaus vorbei, dahinter fährt Paula mit dem Rad. Sie schaut hoch und bewegt die Pedale langsamer. Eine rotgestreifte Katze ist auf einmal da und läuft neben dem Rad her. Paula springt ab, legt das Fahrrad zur Seite. Sie fasst das Tier, trägt es ein paar Schritte umher; legt es ganz nah an ihren Kopf und lässt seine Härchen ihre Wangen berühren. Sie merkt nicht, wie sich jemand einem aufgeschlagenen Fenster im obersten Stock genähert hat, erst als er ruft: »Hallo!«

Erschrocken lässt sie die Katze fallen, diese springt murrend fort.

Sie sieht zu ihm, dürr, schräge Nase. Dann rennt sie zu ihrem Fahrrad und rast die Straße herab.

Paula steigt aus der Straßenbahn, Haltestelle Hauptplatz. Sie streift durch die Gassen, es ist Abend. Vor der Kneipe sind Bänke aufgebaut. Sie setzt sich an den Rand, spielt mit dem Salzstreuer. Dann kommt ihr Onkel. Sie lächelt, sie gibt ihm die Hand, er setzt sich ihr gegenüber. Ihr Onkel ist Gastwirt, er hat sie eingeladen. Sie plaudern kurz über die Familie, der Onkel macht Witze und sie lachen. Dann muss er wieder zur Arbeit zurück. Er legt die Hand auf ihr Schulterblatt und verspricht ein fantastisches Essen, und dass er bald wiederkommt.

Jakob sitzt da mit drei Freunden. Sie spielen Karten und rauchen Zigarillos. Sie sind lustig und etwas angetrunken. Als sein Blick zur Seite durch die Gäste geht, sieht er ein Mädchen, dunkelhaarig, schmal, unsicher. Er nimmt einen tiefen Zug Nikotin. Der Gastwirt mit dem runden Bauch stellt ihr einen Teller Spaghetti hin. Sie lächelt freundlich. Die Gabel braucht lange, bis sie einen Knäuel aufgedreht hat, den das Mädchen zum Mund führt, dessen heraushängende Spitzen die Mundwinkel rot machen. Ihr Rücken ist gebeugt, die Arme angezogen.

»Gewonnen!« schreit der mit dem dunklen Haar und dem breiten Lachen. »Erst noch was trinken. Dann neues Spiel.« Die Freunde winken zum Ober.

Jakob steht auf, seine langen Arme hängen an ihm herunter. Er setzt sich einfach vor sie hin. Sie sieht ihn vorsichtig an, die Spaghetti-Gabel im Mund.

»Wie heißt du?« fragt er.

»Paula.« Dabei wird ihr bewusst, dass das Essen noch auf ihrer Zunge liegt.

»Ich kenne dich. Ich hab dich gesehen.«

»Ich dich auch.« Sie grinst.

Sie fangen an zu erzählen. Ein Gespräch, das langsam anläuft, dann beschleunigt, dessen Fäden sich verwickeln und verknoten, bis das Plappern und Lachen, das Gucken und Necken eine melodiöse Taktfolge findet.

Auf einmal sagt Jakob: »Komm doch das nächste Mal rauf.« Paula sagt nichts.

»Wenn du vor meinem Haus bist. Ich würd mich sehr freuen.«

Sie schüttelt den Kopf.

»Warum nicht?«

Paula lässt die Worte lange im Mund. Dann flüstert sie: »Ich träume am liebsten.«