Klára Petružalková (17)

Hochwasser

Ludvik Mršinka war ein sechzigjähriger Rentner, der bis letzten Sommer allein im Zentrum Prags lebte. Gesellschaft leisteten ihm nur der alte Kater und die bunten Fische im riesengroßen Aquarium. In seiner Freizeit las Ludvik gerne Bücher, er liebte es, die Symphonien von BedYich Smetana zu hören, und machte oft Spaziergänge in der Nähe seiner Wohnung. Sie befand sich in der Mitte des berühmten Prager Stadtviertels Kampa, von wo aus man eine wunderschöne Aussicht auf die Prager Burg hatte. Ludvik ging hier jeden Tag entlang, deshalb waren ihm die engen, gepflasterten Straßen gut bekannt. Er war auch stolz auf sein altertümliches Grammofon und auf die langjährige Sammlung der Schwarz-Weiß-Fotografien, die an den Wänden hingen. Aber das war nicht alles. Seine Zimmer waren buchstäblich von den Kleinigkeiten überfüllt. Ludvik liebte seine geschliffenen Vasen, sein Album mit den Briefmarken aus dem zweiten Weltkrieg und auch ein hölzernes Schachbrett, das aus dem 18. Jahrhundert stammte. In seiner kleinen Wohnung hatte er alles, was ihm wichtig war.

Eines Sommerabends schloss Ludvik sein Buch, legte seine Brille beiseite und machte die Lampe aus. Ludvik schlief zufrieden ein. Früh am Morgen wurde er von den Sirenen der Feuerwehrautos aufgeweckt. Ludvik schaute aus dem Fenster. In den Straßen herrschte Panik, weil alle Einwohner ihre Wohnungen so schnell wie möglich verlassen sollten.

»Die Moldau steigt immer höher und höher, das Wasser steigt unaufhaltsam aus dem Flussbett«, hörte der Rentner im Radio.

Ludvik nahm warme Decken, eine Flasche mit Trinkwasser und lief im gestreiften Nachthemd aus dem Haus. In der großen Verwirrung vergaß er auch seine Tiere.

Der Fluss nahm alles mit, was im Weg war. Die Häuser, die in der Nähe des Ufers standen, waren schon zum Teil überschwemmt.

Als Ludvik seine durchnässten Nachbarn sah, bekam er Angst. »Warum muss ich mein ganzes Eigentum zurücklassen?!«, dachte er, aber die Umstände entschieden ganz anders. Ludvik hörte immer Weinen und Wehklagen. Er nahm seinen Spazierstock, tastete sich ein paar Meter weiter und stieg mit den anderen Menschen in den wartenden Bus, der die Flüchtlinge in eine Schule am Rand der Stadt brachte. In weniger als 24 Stunden wurde das Zentrum Prags von dem fließenden Wasser ganz überschwemmt. Alles, was tiefer als 1,5 Meter lag, ertrank im Schlamm und im stinkenden Wasser der Moldau.

Ludvik bekam einen Liegestuhl und etwas zum Essen. Seine Hände zitterten, als er Meldungen über das Hochwasser im Radio hörte. Der alte Rentner verlor alles, weil seine Wohnung im Erdgeschoss lag. Alles, was Ludviks Leben bildete, schwamm jetzt mit der Flut weg. Die Tränen begannen, ihm über das Gesicht zu fließen. Am Anfang Tropfen, später Bäche. Ludvik wollte nicht weinen, aber er konnte dagegen nichts tun. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und versuchte, nicht nachzudenken. Jede Erinnerung schmerzte ihn mehr und mehr.

Als drei Tage später der Wasserspiegel sank, entspannte sich die kritische Situation. Möbel, tote Haustiere, Kleidungstücke, das alles war bei dem Hochwasser aus den überschwemmten Wohnungen in die Stadt gestürzt und verseuchte die Umgebung der Menschen. Jetzt lagen alle Sachen in den Straßen, und das erschwerte es den Bewohnern, ihre Wohnungen aufzusuchen. Einige Häuser wurden abgerissen, weil sie einsturzgefährdet waren.

Auch Ludvik ging wieder nach Hause. Als er in die Nähe seiner Wohnung kam, erinnerte er sich, wie das Zentrum der tschechischen Hauptstadt vor der Flut ausgesehen hatte. Er ging an einem Mückenschwarm vorbei und trat in seine Wohnung ein. Die Wände waren verschmutzt, der Fußboden war schlammig. Kein Grammofon, keine Fotos, kein Kater. Ludvik blieb stehen. Er zitterte wieder. »Das Hochwasser kam zu uns und hat nur Unglück mitgebracht«, meinte er. »Was kommt noch?«