Kathrin Thalhammer (18)

Hinter Glas

Ich bin sehr in Eile, gehe schnell, renne beinahe, stolpere und falle. Aus der Straße, aus der Stadt, aus der Welt, in einen hellen Raum ganz aus … woraus eigentlich? Aufstehen, umsehen. Mein Knie tut weh. Transparent, glatt und kalt – Glas? Man kann durch die Scheiben die Welt draußen sehen. Sie wirkt gleichzeitig unendlich nah und fern. Die Unendlichkeit ist nur so dick wie eine Glasscheibe.

Jetzt erst entdecke ich die anderen im Raum. Nur schemenhaft sichtbar vor dem Glas, aber menschlich und erreichbar. Keine Bewegung, kein Lebenszeichen – beängstigend. Ich mache einige Schritte auf sie zu, rufe einen Gruß, dann eine Frage. Sie bleiben stumm und teilnahmslos, wie Statuen, halb mit den Scheiben verschmolzen. Ihr Schweigen auf meine Fragen erscheint unerträglich laut, deshalb wende ich mich schließlich ab. Weiter allein mit der Einsamkeit.

Ich seufze, sehe den Menschen beim Leben zu. Sehe, wie manche spazieren gehen oder einkaufen, während andere im Stau stehen, wie alles seinen gewohnten Gang geht.

Warten. Darauf, dass mich jemand vermisst. Dass jemand kommt, die Scheiben zu zerschlagen, mich zurückzuholen, in die Welt. Man wird mich nicht einfach so hier lassen. Es ist schwer, allein zu sein, mit sich selbst. Ruhig zu bleiben, auch wenn es das Beste zu sein scheint. Geduld beweisen, vertrauen darauf, dass schon jemand herausfinden wird, wo ich bin. Sitzen und warten.

Die Menschen hinter dem Glas warten auch. Auf ihre Chance, ihren Liebsten, ihren Bus. Dennoch scheint mir ihr Warten um vieles aktiver als meines, hier im gläsernen Raum.

Die Zeit vergeht quälend langsam. Bald ist mir das Sitzen unerträglich. Auf und ab gehen, wie ein Tiger im Käfig. Sich wehren gegen die Fragen, die in den Kopf drängen. Wie lange noch? Können sie mich nicht retten? Versuchen sie es überhaupt? Womöglich sitze ich hier fest. Nein, das ist doch völlig unmöglich! Sicher nicht! Sicher? Dann die entsetzliche Erkenntnis, dass sich die Welt einfach weitergedreht hat, ohne mich.

Ich kann fast nicht hinsehen, wie sie ihre Feste feiern, lachen, weinen, leben – wie um mir zu spotten. Dennoch vermag ich den Blick nicht abzuwenden von ihrem sorglosen Dasein.

Und mein Schmerz wird zu unbändiger Wut. Über die dort, die es wagen, zu leben, und die hier, die es wagen, es nicht zu tun. Aber vor allem gegen das Glas, das mich trennt, von dem, was ich liebe und hasse. Ich schlage darauf ein, werfe mich dagegen, brülle und tobe. Und wenn jeder meiner Knochen bricht, irgendwann muss das Glas splittern und mich freigeben.

Schließlich erlahmen meine Kräfte. Ich sinke zu Boden, kümmere mich nicht um meine Verletzungen. Schluchzen. Mich sehnen nach der Welt, die mir genommen und gelassen wurde. Verzweifeln an den Wänden, die da sind und doch nicht, die nicht ein- sondern aussperren. Halbe Isolation, doppelte Qual. Warum ich? Keine Antwort. Mich kauernd in traumlosen Schlaf weinen.

Im Halbschlaf kann ich sie noch sehen. Erwachsene und Kinder, Wache und Müde, Erfolgreiche und Erfolglose, Glückliche und Unglückliche. Kein Trost für einen Ausgesperrten.

Jäh erwachen. Kurz hoffen, es sei nur Einbildung. Enttäuscht werden. Keine Kraft mehr zu wüten oder zu trauern. Keine Lust mehr zu denken. Aufgeben. Es ist nicht unangenehm, sich zu ergeben, sich einfach treiben zu lassen. Nur daliegen, sein, und warten, was kommt. Fühlen, wie das Glas sich auch im Selbst immer weiter ausbreitet, bis alles kühl und taub ist.

Die Welt sieht sehr schön aus, durch das Glas. Einladend, warm und ganz und gar anders als der gläserne Raum. Aber so weit weg, dass der Weg dorthin nicht mehr lohnt.

Ich sitze jetzt doch bei den anderen. Verstehe, warum sie so ruhig sind. Sie beobachten die Welt, aus der ich fiel. Ich tue es ihnen gleich und merke, wie die angenehme Kühle des Glases mich umschließt. Auch ein Schemen werden, wie die anderen. Sitzen, warten, eins werden mit den umgebenden Scheiben. Und irgendwann wird dann jemand durch mich hindurch stolpern.