Kathi Serles (16)

Glaswolken

Sie stellte sich an das milchige Zugfenster. So nah, dass ihre Nasenspitze das kühle Glas berührte und ihr Atem Wolken malte.

Sie wartete. Wusste nicht worauf. Wofür. Wie lange. Wusste nur, dass es immer noch besser war, als nichts zu tun.

Es hatte die ganze Nacht geregnet. Die graugrünen Nebelschwaden vor dem Fenster, die sie die Fahrt über begleitet hatten, verlangsamten sich. Sie verformten sich und bildeten zuerst schier endlose Wälder, dann einzelne Bäume und schließlich einen verwaschenen Stadtrand. Die Stadt schlief noch, Dämmerlicht hing in den Straßen. Der Zug schleppte sich an Häuserfronten und alten Fabrikschornsteinen vorbei, bis er schließlich in den Bahnhof einfuhr.

Am Gleis gegenüber hielt ein anderer Zug. Seltsames Zusammentreffen aller Himmelsrichtungen. Wir leben alle in der Ferne.

Abteil für Abteil zog an ihr vorüber. Die Menschen sahen nicht hinaus. Verschliefen den Regen. Als das Rattern der Räder verstummt war, stand ihr Zug endlich still.

Die kleinen Wolken verschwanden - sie hielt den Atem an. Sie hatte etwas gesehen, einen verwischten Schatten im Abteil gegenüber. Da stand jemand. Stand, genau, wie sie, und starrte.

Er schien ihr so angenehm vertraut. Sie wollte, musste sich ihm nähern.

Wer bist du. Sie hauchte es ans Glas. Wolkenworte.

Er sah sie an. Formte seine Lippen, sprach zu ihr.

Da verstand sie, trat vom Fenster weg. Sie wusste nicht, warum sie das tat, wollte auch gar nicht darüber nachdenken. Alle Gedanken zur Seite schieben und fühlen. Nur für einen Moment.

Er berührte ihre Stirn. Seine Haut war heiß. Brannte.

Da bist du endlich.

Vorsichtig beugte er sich zu ihr, zögerte, bis sie die Augen schloss.

Sie spürte seinen Atem auf ihren Lidern. Wangen. Lippen.

Innehalten.

Dann: ein Kuss.

Und irgendwo zersplitterte Glas.

Sie öffnete die Augen. Drückende Hitze erfüllte das Abteil.

Verunsichert trat sie ans Fenster, suchte ihn hinter dicken Scheiben, sah aber nur noch seinen Zug verschwinden. Zuerst aus dem Bahnhof, dann aus der Stadt und schließlich in die graugrünen Nebelschwaden.