Katharina Laun (17)

Musik

Der ganze Saal applaudiert, Blumen fliegen auf die Bühne.

Ja, die Leute haben Recht, die Traviata war die beste heute Abend. Keiner hat mit solcher Leidenschaft gesungen wie sie, kein anderer Sänger konnte seine Rolle dem Publikum so nahe bringen wie sie.

Die Karte waren schon Wochen vor der Aufführung ausverkauft, alle wollten sie hören.

Mit der Traviata hat sie vor einem Jahr ihr Debüt gefeiert, und seit dieser Zeit singt sie diesen Part jedes Mal besser. Bei jeder Aufführung versinkt sie mehr in diese Person, die sie darstellen soll, nichts kann sie von dieser Rolle trennen. Ihre Gesten wirken weder übertrieben noch unnatürlich. Sie spielt die Traviata nicht, wenn sie auf der Bühne steht, ist sie selbst die Traviata, eine junge, an Schwindsucht erkrankte, unglückliche Frau.

Als sie sich von ihrem Alfredo trennte und die Abschiedsarie sang, glaubte jeder im Zuschauerraum, dass ihr der Abschied schwer fiele und dass sie ihn nicht verlassen mochte. Bei vielen anderen Sängerinnen hört man nur die Musik, die Töne, aber die wirkliche Trauer um den Abschied hört man bei ihnen nicht. Mir wurde es richtig kalt, als sie gesungen hat.

Und erst die Todesarie! Ich habe geweint, als sie die letzten Töne der Arie gesungen hat. Viele andere Sängerinnen singen diese Arie so, dass man hört, dass sie jetzt nicht mehr nur an ihr Sterben, sondern an den Applaus danach denken.

Bei ihr fühlte jeder mir, dass sie sich gegen den Tod aufbäumt und sich ihrem Schicksal nicht beugen will.

Als die Arie zu Ende war, glaubte man in den Sekunden, die das Orchester noch spielte und der Vorhang fiel, dass sie wirklich gestorben sei, so überzeugend hatte sie die letzten Töne gesungen. Erst als der Applaus einsetzte und sie sich verbeugte, wusste man wieder, was Realität und was Bühne ist.

Noch immer jubelt das Publikum, noch immer fliegen Blumen. Sie verbeugt sich, dankt dem Orchester und ihren Mitspielern. Das Publikum ist noch immer sehr ergriffen. In den Augen der Leute um mich herum sehe ich viele Tränen.

Auch von mir wird sie einen Strauß bekommen. Aber er ist nicht auf die Bühne geflogen, sondern er wird in ihrer Garderobe stehen. Zusammen mit einem Brief, keinem der üblichen Gratulantenbriefe. In diesem Brief werde ich sie um ein Treffen bitten, möglichst bald. Ich muss ihr eine Nachricht überbringen. Keine schöne, und es wird sie sehr treffen. Ich habe es versprochen, und auch, wenn niemand kontrollieren kann, ob ich mein Versprechen gehalten habe, widerstrebt es mir, mein Versprechen zu brechen.

 

In meinem Hotelzimmer angekommen, hole ich ein altes Foto aus meiner Tasche. Es zeigt die »Traviata« im Alter von 19 Jahren. Kurz nach dem Abitur, auf dem Abschlussball.

Sie war schon in der Schule etwas Besonderes. Als wir uns kennen lernten, waren wir beide noch Kinder, gerade zwölf Jahre alt.

Sie war ein paar Wochen nach den Herbstferien neu an unsere Schule gekommen, war mit ihren Eltern umgezogen. Unser Klassenlehrer brachte sie eines morgens mit in die Klasse und stellte sie uns vor. Es war schwer, sie einzuschätzen, denn es ließ sich nicht sagen, ob sie mehr der verschlossene und stille Typ oder der offene und gesprächige Typ war, denn weder ihr Aussehen noch ihr Auftreten ließen Rückschlüsse auf ihren Charakter zu.

Sie war relativ groß und sehr schlank. Irgendwie sah sie ein wenig dramatisch aus. Sie hatte lange schwarze Haare und große, sehr dunkle Augen. Ihre fast weiße Haut unterstrich den dramatischen Eindruck, und ihre klar umrissenen und sehr roten Lippen machten diesen Eindruck vollkommen. Ihre Bewegungen hatten etwas Geschmeidiges und Elegantes an sich. Ihre Stimme war hell, und wenn sie sprach, hatte man den Eindruck, dass die Worte eher eine Melodie als einen Satz bildeten.

Auf der einen Seite schien sie sehr sympathisch und freundlich zu sein, aber auf der anderen Seite war sie von einer gewissen kühlen Distanz umgeben, die ich nicht durchbrechen konnte. Trotzdem stellte ich nach einige Gesprächen fest, dass wir viele gemeinsame Interessen hatten. Wir liebten beide klassische Musik, und ganz besonders Opern. Auch lasen wir beide gerne und gingen gerne spazieren, um unseren Gedanken nachzuhängen.

Schnell fand ich auch heraus, woher diese Distanz stammte. Sie liebte die Oper nicht nur, sondern sie lebte mit dieser Musik. Sie hatte seit ihrem achten Lebensjahr Gesangsunterricht und galt als großes Talent. Ihr Lehrer war sehr stolz auf sie und setzte seine ganze Hoffnung in sie. Jeden Tag hatte sie Unterricht und übte mindestens zwei Stunden.

Sie sang auf vielen Konzerten und lud mich jedes Mal dazu ein. Häufig kam ich auch und war immer von ihrem Gesang fasziniert. Schon als junges Mädchen brachte sie es fertig, ihre Arien so vorzutragen, dass alle spürten, dass sie die Rolle lebte und nicht nur sang.

So wie vorhin auf der Bühne, so habe ich sie schon früher oft erlebt. Nicht so gewaltig, sie war talentiert, aber ein Kind, aber diesen besonders starken und einprägsamen Ausdruck, der aus ihrer Stimme das Besondere machte, den hatte sie schon Kind.

Wir waren gute Freunde, aber die Aura des Besonderen, die blieb immer um sie herum, denn wenn sie in ihrer Musik versank, konnte auch ich ihr nicht immer folgen und sie verstehen. Dennoch, obwohl sie als junges Mädchen bereits eine kleine Berühmtheit war, waren ihr neben ihrer Musik auch ihre Freunde sehr wichtig. Wenn jemand sie brauchte oder wenn jemand in ihrer Umgebung unglücklich war, nahm sie sich das immer sehr zu Herzen und versuchte zu helfen.

Auf dem Foto trägt sie ein schwarzes, schlichtes Kleid. Noch immer hat sie diese Aura des Besonderen und noch immer sieht sie so dramatisch aus.

Aber inzwischen ist aus dem Mädchen eine große, schlanke Frau mit langen schwarzen Haaren, großen, dunklen, fast melancholisch wirkenden Augen, weißer Haut und sehr roten Lippen geworden. Auf unserem Abschlussball sang sie eine Arie, aus »La Traviata«, und wir, alle ihre Freunde wussten, dass ihr Leben vorgezeichnet war.

Die Aufnahmeprüfung an die beste Musikhochschule hatte sie bereits drei Monaten vor dem Abi bestanden, sie würde Sängerin werden, das wussten wir alle.

Nach dem Abitur habe ich sie aus den Augen verloren, denn sie zog in eine andere Stadt, viele hundert Kilometer weit weg. Zuerst haben wir uns noch geschrieben, dann hatte sie immer mehr und mehr Auftritte, und sie reiste zu vielen Workshops und Wettbewerben, der Kontakt brach ab.

 

Um mein Versprechen zu halten, musste ich sie suchen. Aber das war nicht schwer. Ein Jahr nach ihrem Debüt war es nicht schwierig, jederzeit zu erfahren, wo sie als nächstes auftreten würde. Jede Stadt, in der sie singen würde, hatte schon Wochen vorher Plakate aufgehängt und den Kartenvorverkauf gestartet.

Auf einmal klingelt das Telefon. Der Agent meiner »Traviata« teilt mir mit, dass ich morgen um zehn in die Oper kommen soll. Dort würde ich die Künstlerin nach ihrer Probe sprechen können.

Auf das Gespräch morgen werde ich mich noch vorbereiten müssen, denn wie soll ich diese Nachricht überbringen?

Am nächsten Morgen werde ich um zehn nach zehn in den großen Saal geführt, wo die Probe stattfindet. Die Künstlerin hat die Anweisung gegeben, mich zur Probe zu bringen, denn die Probe dauerte länger als vorgesehen.

Am Klavier sitzt der Dirigent, spielt die Orchesterbegleitung, und sie singt die Abschiedsarie. Ich bin genauso ergriffen wie gestern Abend. Eine Weile höre ich ihr zu, und als sie geendet hat, klatsche ich. Sie verbeugt sich lächelnd und kommt von der Bühne herunter.

Als sie mir gegenübersteht, erstarrte ich. Um sie herum ist wieder diese Distanziertheit, aber nicht mehr auf dieser geheimnisvolle Art wie früher, sondern auf eine abstoßenden und kalte Art. Ihre dunklen und früher so melancholischen Augen blicken nun streng und kalt. Auch ihr ganzes Auftreten hat alles Freundschaftliche und Geheimnisvolle verloren, sie wirkt kalt und streng.

Sie reicht mir die Hand, macht aber keine Anstalten, näher als auf eine Armeslänge auf mich zu zu kommen. Obwohl sie mich erkennt, denn sie redet mich mit meinem Spitznamen an, behandelt sie mich wie eine Fremde. Sie stellt mir einige sehr unpersönliche Fragen über meine Eindrücke über die Stadt. Über ihren Auftritt spricht sie nicht, und auch ich möchte jetzt nicht darüber sprechen.

»Du wolltest mir eine Nachricht überbringen. Um was geht es denn?« Sie fragt das so mechanisch, dass ich spüre, dass sie es eigentlich nicht wissen will.

Auch mein Besuch scheint ihr nicht sonderlich willkommen zu sein. Zuerst will ich sie bitten, mit mir in ihre Garderobe zu gehen, und ihr dort meine schreckliche Nachricht überbringen. Aber etwas hält mich zurück; sie hat sich verändert, vielleicht wird sie auch anders reagieren. Sie scheint in Eile zu sein und zeigt mir deutlich, dass sie sowohl für meine Andeutungen, als auch für meinen Besuch keine Zeit hat.

»Du hattest letzte Woche Besuch von jemand aus unserer alten Schule.«

Das ist vielleicht kein sehr guter Anfang, sehr wenig gefühlvoll, aber ihr neuer Charakter macht es mir unmöglich gefühlvoll mit ihr zu sprechen.

»Ja, das stimmt. Frederic, mit dem ich kurz vor dem Abi zusammen war. Er hat mich schon während des Studiums immer wieder bedrängt und gefragt, ob wirklich Schluss ist.

Letzte Woche kam er nach der Aufführung zu mir und stellte dieselbe Frage. Ich habe ihm deutlich klar gemacht, dass es keinen Sinn hat. Ich denke, er hat es verstanden.« Diese Sätze bringt sie mit einer leblosen Stimme hervor, ohne Emotion oder Gefühl.

Die ganze Angelegenheit scheint sie zu langweilen. Sie schenkt der Partitur, in der sie jetzt blätterte, mehr Aufmerksamkeit als mir.

Wie kann sie so kalt sein, Frederic war verzweifelt, als sie sich von ihm getrennt hat und er immer wieder vergeblich um sie kämpfte.

Er hat sie geliebt, wollte sie nicht verlieren. Jedes Mal, wenn sie ihn von neuem abgewiesen hat, glaubte er nicht, dass es endgültig aus sei.

»Er war immer traurig und deprimiert, wenn du ihn abgewiesen hast. Er glaubte nicht, dass du seine Gefühle nicht erwidern könntest!«

»Ich habe ihm mehr als einmal deutlich gesagt, dass ich nur für die Bühne und meine Rolle lebe. Ich habe viele Jahre hart gearbeitet, um die Perfektion zu erreichen, die ich heute habe. Jeden Tag habe ich geübt und mich verbessert, glaub mir, das war nicht einfach. Dazu gehört viel Selbstdisziplin, eine gute Stimme bekommt man nicht über Nacht. Jetzt zahlt sich meine harte Arbeit endlich aus, und ich würde meine Karriere für nichts aufgeben, auch nicht für die Liebe. In meinen Leben ist nur für meine Rollen Platz, nur für meine Musik, sonst für gar niemand. Wenn er das nicht begreifen kann, dann ist das nicht meine Schuld. Beim letzten Mal habe ich ihm das so deutlich gesagt, dass er es nicht missverstehen konnte.«

Während dieser Rede ist sie immer lauter geworden, hat die letzten Worte fast geschrien. Sie schmeißt die Partitur auf den Flügel und dreht sich zu mir um. »Genau dort, wo du jetzt stehst, hat er auch gestanden. Ich habe ihm meinen Standpunkt erklärt und dann meine Abschiedsarie gesungen. Noch deutlicher ging es ja wohl nicht!«

Ich kann nicht glauben, was ich gehört habe. Verzweifelt und ohne zu überlegen, schreie ich sie an: »Er hat sich vor ein paar Tagen umgebracht, weil er völlig fertig war, dass du ihn so kalt abgewiesen hast!«

Meine Worte scheinen an ihr abzuprallen. Sie wendet sie wieder der Partitur zu. Keine Tränen, kein Entsetzen – Nichts!

»Er hat mir einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem er mich bat, dass ich dir die Nachricht von seinem Tod überbringen soll. Ich dachte, es würde dich schwer treffen, ich habe überlegt, wie ich es dir vorsichtig beibringen soll, aber du scheinst ja nur an deine Musik und deine Karriere zu denken. Du hast kein Herz und keine Gefühle, du bist so kalt geworden!«

»Es tut mir Leid, dass er sich umgebracht hat, aber wenn ich mich wegen jeder Enttäuschung umgebracht hätte, die ich erlebt habe, dann wäre ich nicht sehr alt geworden. Was meinst du, wie oft ich mich um die Rolle der Traviata bewerben musste, bevor es geklappt hat, und die Absagen waren oft nicht sehr freundlich. Einmal, in Mailand …«

Noch während sie spricht, stürze ich an ihr vorbei und aus dem Saal hinaus.

Wie schafft sie es, auf der Bühne so viel Gefühl zu zeigen? Sie reagiert jetzt so kalt auf den Tod, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dieselbe Person ist, die auf der Bühne so überzeugend ihre Rolle verkörpert.

Eine Weile laufe ich ziellos durch die Stadt, betrachte Schaufenster und sehe doch nichts.

Ich versuche zu verarbeiten, was ich gerade erlebt habe. Noch immer kann ich nicht verstehen, was ich gehört und gesehen habe.

Früher waren ihr ihre Freunde wichtig, heute denkt sie nur noch an ihre Musik und ihre Karriere. Wann hat sie sich so geändert?

Und kann man sich so ändern, dass einem sogar der Tod egal ist?

 

Etwas später komme ich in mein Hotel zurück. Dort finde ich auf meinem Zimmer eine Nachricht ihres Agenten.

Er bittet mich, in die Oper zu kommen. Die Künstlerin möchte mit mir sprechen.

Eine kleine Weile kämpfe ich mit mir, ob ich gehen soll.

Aber wenn sie doch noch ein bisschen wie früher ist? Wenn sie noch ein bisschen wie früher ist, kann ich mit ihr sprechen, sie vielleicht sogar verstehen. Und wenn nicht? Aber ich will es riskieren! Ich werde gehen.

Kurz darauf stehe ich zum zweiten Mal an diesem Tag im großen Saal der Oper. Der Agent weist mir den Weg zu ihrer Garderobe.

Während ich auf die Tür zugehe, höre ich die Todesarie der Traviata.

Vor der Tür zögere ich, aber dann klopfe ich. Die Tür war nur angelehnt, sie öffnet sich. Ich betrete den Raum.

Sie hat nicht gesungen, ihre Stimme kommt aus dem CD-Player, der neben ihr steht. Sie sitzt vor dem Spiegel, ich kann ihr Gesicht im Spiegel sehen.

Sie hat geweint, die Wimperntusche ist über Schläfen und Wangen verteilt, und ihre sonst roten Lippen sind fast so weiß wie ihre Haut.

Plötzlich bewegt sie sich, aber sie dreht sich nicht zu mir um.

Sie sinkt langsam in sich zusammen, und ihr rechter Arm rutscht über den Stuhllehne Richtung Boden.

Mit dem letzten »Adio« der Traviata öffnet sich ihre Hand, und ein kleines Röhrchen fällt zu Boden.

Es rollt Richtung Tür und bleibt so liegen, dass ich das Etikett lesen kann: Schlaftabletten.