Irene Deubelbeiss (14)

Butterkeks

In einem unbekannten Land, da lebte vor gar nicht allzu langer Zeit ein Butterkeks namens Bernd. Doch Bernd war kein Butterkeks wie all die anderen, denn seine Mutter, die kurz nach seiner Fabrikation unter rätselhaften Umständen gegessen worden war, war keine Butterkeksin gewesen, sondern eine Schokoladentafel. Obwohl Bernd sich grosse Mühe gab, seinen Vater, den grossen Leibniz, zufrieden zu stellen und von seinem Handicap abzulenken, musste jeder seine Missgestaltung sofort erkennen, denn zu seinem grossen Leidwesen hatte er statt dem zartbeigen Teint der anderen Butterkekse ein schokobraun gefärbtes Äusseres.

Die anderen Butterkekslein weigerten sich deshalb, mit ihm zu spielen, und so sass der kleine Bernd zumeist still in einer Ecke seiner heimischen Butterkekspackung, während sich die erwachsenen Butterkekse leise unterhielten. Zumeist täuschte Bernd vor, in Gedanken abwesend zu sein, was ihm den Ruf eines Taugenichts einbrachte, doch in Wirklichkeit verstand er ganz genau, dass oftmals er der Inhalt der Gespräche der Butterkekse war. Das war auch kein Wunder, da es im Leben der Butterkekse nicht sehr viel spannende Ereignisse gab. Er hörte dann, wie die anderen seinen Vater bemitleideten und niemand verstand, wie es Milka, seine Mutter, geschafft hatte, sich einzuschleichen und so ein missgebildetes Kind zurückzulassen, wo doch bisher Leibniz, der Vater aller Butterkekse von Bernds Volk, immer für die Vielzahl an perfekten Zöglingen bekannt gewesen war.

Mit dem Anhören von solchen und ähnlichen Gesprächen aufgewachsen, war es kein Wunder, dass Bernd sich mehr als nur degeneriert vorkam und sich möglichst vor den Blicken der anderen verborgen hielt, voller Angst vor der angeekelten Reaktion der anderen Butterkekse, wenn sie sein hässliches Äusseres erblicken würden.

Eines Tages jedoch geschah etwas Seltsames. Plötzlich begann der Boden zu beben und zu schaukeln. Alle Butterkekse schrien in heller Panik durcheinander und hielten sich aneinander fest. Nur Bernd, der sich nicht traute, die anderen zu berühren, fand keinen Halt. Er versuchte, sich an dem weissen Karton der Verpackung festzukrallen, doch da er keine Gliedmassen hatte, gelang das nicht, und er flog in hohem Bogen über die restlichen Butterkekse in der Packung hinweg. Ihre Empörung liess die anderen für einen kurzen Moment sogar ihre Angst vergessen, und ob seines Betragens entsetzte Rufe folgten ihm.

Er hätte gerne darauf geantwortet, sich verteidigt, doch er wusste, dass die anderen Butterkekse ihm sowieso nicht zugehört hätten. Das hatten sie noch nie getan, und in so einer schrecklichen Situation wie dieser schon gar nicht. Ausserdem hatte er bedeutend grössere Sorgen: Die vordere Wand der Verpackung, ein Ort, den er noch fast nie gesehen hatte, flog nur so auf ihn zu. Er kniff die Augen zusammen, fest darauf gefasst, daran zu zerschellen.

Er wartete und wartete. Er flog immer weiter und wartete immer noch. Plötzlich wurde es seltsam hell um ihn herum, und er kam nicht umhin, die Augen neugierig ein kleines bisschen zu öffnen.

Gleissende Helligkeit umgab ihn. Rund um ihn herum waren eine so grosse Menge von fremden Eindrücken, dass er gar nicht alle hätte aufzählen können. Er sah nach oben und erblickte seine Heimat, die Packung. Sie schien unendlich weit entfernt über ihm in der Luft zu schweben. Dort, wo früher die vordere Wand der Packung gewesen war, gähnte ein tiefes Loch, aus dem langsam aber sicher ein Butterkeks nach dem anderen purzelte.

Tränen traten Bernd in die Augen, er wusste selbst nicht, ob aus Freude über die Freiheit oder Trauer wegen des Verlustes seines Heimes. Da, mit einem Male erblickte er etwas Seltsames: Die Packung schwebte keineswegs in der Luft, sondern wurde von einem seltsamen, braunrosafarbenen, länglichen Ding gehalten. Am Ende hatte es eine Art von Greifzangen, mit denen es die Packung eisern festhielt.

Doch Bernd hatte keine Gelegenheit mehr, über dieses wundersame Etwas nachzudenken, denn plötzlich prallte er auf einem Untergrund auf, härter als alles, was er bisher gespürt hatte.

Eine Weile blieb er benommen liegen, bis er sicher war, sich nicht ernsthaft verletzt zu haben, bis er sich zögernd erhob. Was er erblickte, drehte ihm beinahe den Magen um. Die anderen Butterkekse waren keineswegs alle so ungeschoren davon gekommen wie Bernd. Neben ihm, mit entzwei gebrochenem Körper, lag Britta, eine junge Butterkeksin, deren perfekte, beinahe schon weissliche Färbung Bernd schon oft bewundert hatte. Ein alter Butterkeks mit Namen Bruno lag in der Nähe, ob tot oder bloss bewusstlos, vermochte Bernd nicht zu erkennen, doch die eine Ecke seines Kopfes war … weg.

Noch während Bernd schockiert die vielen Toten und Verletzten unter seinen Mitkeksen betrachtete, dröhnte plötzlich eine laute Stimme von oben: »Was macht den so etwas in einer Butterkeksschachtel?«

Bernd spürte, wie ein Ding, ähnlich dem, das die Butterkekspackung festgehalten hatte, seinen Körper mit seiner Greifzange umfasste. Die Zangen waren eigenartig sanft, was Bernd, der gedacht hatte, er würde darunter zerdrückt werden, ungemein verwunderte.

Ob dies Gott war?, fragte er sich. Natürlich musste es Gott sein, niemand sonst könnte eine so hoheitsvolle Erscheinung haben.

Und er gab sich mit so einem minderwertigen Wesen wie ihm ab! Bernd schniefte. Gott musste wahrhaftig gross sein.

Er war jetzt hoch in der Luft, tief unter sich erkannte er noch unscharf die anderen Butterkekse, und er sah auch, was der harte Untergrund war, an dem so viele zerschellt waren: eine Glasschüssel.

Doch bevor er erkannte, was das bedeutete, fiel er auch schon wieder. Er zappelte, versuchte, sich in der Luft zu halten, doch natürlich funktionierte das nicht, und er schickte sich darein. Es war nicht mehr als gerecht, nachdem er vorher so ein unverschämtes, unverdientes Glück gehabt hatte, wenn jetzt sein Körper zerbrechen würde, wie der Brittas. Er schloss die Augen und bereitete sich auf den Tod vor.

Doch er fiel weich. Regungslos lag er da und fragte sich, was passiert war. Unter sich spürte er andere Körper wie der seinige. Butterkekse?

»He, du Trampel! Drängeln gilt nicht!«

Er schrak zusammen. »Oh, verzeihen Sie!«

»Das nützt nichts. Geh von mir runter!«

Er hob langsam die Lider. Ihm war noch ganz schwindelig von dem wiederholten Fallen, und er vermeinte zuerst, seine Augen spielten ihm einen Streich. Vor ihm stand eine Butterkeksin … Mit derselben Hautfarbe wie er.

Er merkte erst, dass er die Butterkeksin mit offenem Mund anstarrte, als diese verächtlich sagte: »Kannst du auch reden?«

»Natürlich«, beeilte sich Bernd zu sagen. »Verstehen Sie, ich habe nur noch nie eine so dunkle Butterkeksdame gesehen.«

»Butterkeks!?« Sein Gegenüber spuckte die Worte beinahe aus. »Ich muss doch sehr bitten! Ich bin eine reinrassige Schokokeksin!«

»Schokokeksin?«

»Ja, was dachtest du denn? Seh’ ich etwa so anders aus als du?«

»Als ich?«, wiederholte Bernd verständnislos.

»Ja, du. Du siehst ja auch nicht schokokeksiger aus als ich!«

Bernd lachte nervös. »Natürlich nicht, das würde ich nie behaupten!«

Sein Herz klopfte wie wild, und er versuchte, seine Gedanken in Ordnung zu bringen. Er kombinierte: Wenn sie eine Schokokeksin war und so aussah wie er … Dann war er auch … und das hiess, er war gar keine Missgeburt! Hier um ihn herum waren Dutzende andere wie er. Schokokeks. Bernd dachte, er habe noch nie ein so wunderbares Wort vernommen.

Er lächelte gelöst. »Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?«

»Ich bin Sybille«, antwortete sie gnädig.

»Sybille …«, murmelte Bernd verträumt. »Ich verdanke Euch so viel.«

»Pf…« Sybille schien von ihm gelangweilt. »Komischer Kerl«, murmelte sie noch, dann wandte sie sich anderen Dingen zu.

Bernd blickte ihr noch eine ganze Weile nach, noch ganz verzaubert von dem eben in Erfahrung Gebrachten, bis er endlich aus seiner Starre erwachte. Nun hatte er endlich Zeit, sich umzublicken. Er sass schon wieder in einer Glasschüssel! Er überlegte lange, womit er das in Verbindung brachte, bis es ihn wie ein Blitz durchfuhr: Er war zur grossen Schüssel gelangt, dem geheimnisvollen Ort, wo jeder Butterkeks und sehr wahrscheinlich auch Schokokeks am Ende seines Lebens hinkam, um seine letzte Bestimmung zu erfüllen: zu Gott zurückzukehren.

Nach dieser Erkenntnis überkam Bernd ein tiefer Frieden. Er lächelte noch, als die Greifzangen ihn wieder aufhoben und dem Munde Gottes entgegenführten.

»Ich danke Ihnen, Sybille!«, war das Letzte, was er rief.