Cordula Simon (17)

Flügel

Das Geschenk/Erstaunen

Es läutete. Ich ließ eine meiner Schwestern aufmachen.
Zugegebenermaßen bin ich manchmal zu allem zu faul (auch wenn ich drei Schritte von der Tür entfernt bin, selbige zu öffnen).
Schön und gut: eine recht eigenartige Schachtel.
Sie war sofort Feuer und Flamme: »Von deinem Lover!«, sie spottet gerne.
Eine Art Schachtel, in der früher oft teure Blumen verschickt wurden, weiß, länglich, alberne Schleife, Lieferant schon weg.
»Mach doch auf - was auch immer da drin ist, wird schon nicht beißen.« sagte sie (keine Ahnung ob die Schachtel oder die Schwester).
Wollte doch nur meine Ruhe haben mit meinen netten kleinen pessimistisch-depressiven, welt-verachtenden Gedanken - und vom so genannten »Lover« habe ich zu lange nichts gehört, um an ein paar nette Blümchen von seiner Seite zu denken.
Sie packte sich mit dem Rücken zu mir vor den Fernseher (nicht die Schachtel). - wenn sie etwas wissen wollte, hatte sie Zeit.
Ich weiß nicht, wie lange ich so da stand, bis ich die Schachtel auf den Tisch direkt neben der Tür legte.
Langsam hob ich den Deckel etwas an - definitiv keine Blumen - und ließ ihn wieder fallen.
Noch einmal von vorne - diesmal schmiss ich den Deckel auf den Boden.
»Was?« fragte sie - aber mir war nicht nach Antworten.
Ich sah mir den Zettel an … wirklich von ihm … Und ich war schon beinahe sicher unfähig zu sozialen Verbindungen zu sein.
Definitiv keine Blumen - ich strich langsam über die weichen Federn. Warme, weiche Federn.
Manchmal begreife ich eben sehr schwer. Nocheinmal. Warme, weiche Federn.
Nur für mich? - nur für mich.
Das muss ich wohl laut gesagt haben denn sie drehte sich wieder zu mir um, grummelte etwas, als sie merkte, dass ich wohl nicht ansprechbar wäre, akzeptierte es aber und wandte sich wieder dem Fernseher zu.
Mein Gefühl dafür wie viel Zeit dann noch verging ist taub.

»Sag! Oder besser: Zeig her.« drehte sie sich wieder um.
Ich glaube sie sah gerade noch meinen Schatten, als ich über die Häuser davonflog.

 

Telefonat/Spätnachts

»Wie hast du mich gefunden unter 6 Milliarden Menschen?«
habe ich dich gefragt.
Du hast tief geatmet, antworten konntest du nicht.
»Es ist leichter zu atmen, wenn du da bist.« Habe ich nur gedacht,
dann bist du eingeschlafen … wäre ich auch gerne, doch lieber neben dir.
»Nachts lasse ich das licht brennen, damit du mich finden kannst …«
das hast du gehört, bist wieder aufgewacht:
»Kommst du mit?« ganz leise und dumpf … du bist wohl wieder auf dem Telefon gelegen.
»Wohin?« ‚überallhin' wollte ich eigentlich sagen.
Du hast schwer geatmet. »Schlaf gut« wollte ich flüstern, als es in der Leitung knackte.
Mir war nach Schreien zumute, also habe ich geschrien.
Immer wenn ich telefoniere, hebt jemand am Zweittelefon ab.
Du hast schon geschlafen, aber ich hätte dir trotzdem gerne noch ein bisschen zugehört, wie du atmest.
Das Telefon läutete, ich wusste das Knacken würde dich aufwecken, es tut mir Leid.
Mit dem läuten hast du vielleicht jemanden geweckt, das tut mir weniger Leid.
»Wohin?« diesmal bitte mit Antwort.
»Fort, weit fort, nur davonfliegen.« War alles, was du sagtest.
Die Flügel, ich hätte wissen müssen, dass du von den Flügeln redest. - und ich hatte mich schon gewundert wie du dich daran erinnerst was du im Halbschlaf gefragt hast.
Fort fliegen und sich irgendwo an einem unentdeckten Ort unter den warmen weichen Federn verstecken, die uns dorthin getragen haben.
»Die Flügel« ich muss wohl geseufzt haben.
»Wozu haben wir sie sonst?« du hast sicher gegrinst als du das sagtest. Ein ganz schwaches Grinsen, weil du dich schon wieder an einem Flügel festgeträumt hattest.
»Ich bin müde.« Ich war müde und wollte nur irgendetwas sagen.
Du warst schon wieder eingeschlafen als ich meinen Flügel aus der Kiste, in der ich ihn aufbewahre, nahm, das Fenster öffnete, mich fallen ließ, in deiner Umarmung landete um fort, weit fort, nur davon zu fliegen.

 

Weit entfernt/im Dunkeln

Wieso ist es Nacht? Und wo bist du?
Ich kann dich nirgends sehen.
Das Licht, die Mondfinsternis, ist zu schwach.
Der Mond in meinen Augen zerrinnt.
»Sieh dir das an!«, es tut mir Leid, geschrien zu haben, aber für wen, sieh dir das an ... zerbrochen. Nie mehr wieder fliegen.
Wie ist das passiert?
»Glücklichsein, was hast du schon davon.« Flüstert eine Stimme in mir.
Möchte ihr recht geben, schreie stattdessen.
Und mein Flügel ... »Du hast ihn kaputt gemacht!«
Aber so laut ich auch schreie, du kannst mich ja doch nicht hören.
Langsam beginne ich zu fallen, bald schneller.

»Was ist passiert?« »Seht euch das an!«, sammeln sich die Menschen um mich.

Dachte schon, ich würde aufwachen, doch es war nur der Aufprall.

 

Badewanne/an einem weit entfernten Ort

Das Wasser rinnt deinen Rücken hinunter – weißt du, dass es schön ist, so mit dir hier zu sitzen.

Noch einmal. Der Schwamm saugt sich wieder voll.

Lege meine Arme und Beine um dich. Mache die Augen zu.

Die Flügel beginnen wieder sich auszubreiten – langsam heben sie sich aus dem Wasser. Schaum klebt an ihnen, schimmernd.

Das warme Wasser tropft von den Federn auf uns herunter.

Ich denke nichts. Du küsst mich.

Nah, verwurzelt, wir beide ineinander.

Schweben – immer höher ohne das warme Wasser zu verlassen.

»Was wollen wir noch hier?«,

ist das eine Frage oder eine Bitte?

Meine Tränen laufen deine Wange hinunter. Warm wie das Wasser um uns herum.

Langsames Drehen, dieses Schweben, das wir immer in großen Räumen machten.

Diesmal ist der Raum verschwunden.

Immer höher, immer näher, hören wir auf schnell zu leben.

Ich spüre die Tropfen meinen Körper hinunter laufen.

Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich die Sterne.

Sie sind jetzt unter uns, während wir immer weiter fliegen.

Keiner wird uns vermissen, nicht vor dem Morgen.

Die warmen weichen Federn – fast trocken – schließen sich zuckend über uns.

Nicht nur wir, auch die Angst ist fortgeflogen.

Landen im Mondlicht.

Auch der Mond in deinen Augen zerrinnt.

Lege meinen Kopf auf deine Schulter,

schlafe ein, ohne zu wissen, ob wir schweben oder ob ich nicht schon längst eingeschlafen bin.