Astrid Pinsger (16)

Spiegelbild

Ich möchte mit dir sprechen.

Ich weiß, nach solch einer langen Zeitspanne, in der wir keinen Kontakt zueinander hatten, kommt dieses Gespräch sehr plötzlich.

Doch … ich muss.

Wenn ich meine Augen schließe, kann ich dich sehen. Es entsteht ein verzerrtes Bild, das ich nicht klar erkennen kann. Doch dein Mund. Lächelnd strahlt er mich an.

Ich erfuhr es schon früh, das mit uns beiden. Vorstellen konnte ich es mir jedoch kaum. Deshalb schob ich die Gedanken an dich beiseite. Ich habe dich dennoch nicht vergessen.

Nun, da wir uns heute endlich sehen, kann ich dir erzählen, wie ich mich fühle.

Sicherlich meinst du, es hätte keinen Sinn, nach so vielen Jahren über längst vergangene Zeiten zu sprechen, aber jetzt ist der richtige Moment dafür.

Ich kann nicht leugnen, dass ich etwas Angst habe, dir gegenüber zu sitzen. Ich habe gemischte Gefühle, weiß nicht so recht, was ich denken soll.

Einerseits schlägt mein Herz rasend, und ich kann dieses Glück kaum fassen. Andererseits bin ich verunsichert und versuche, Worte zu finden, um dir zu zeigen, wie sehr ich dich vermisst habe.

Ja, gefehlt hast du mir, vor allem an traurigen Tagen.

Ich ging oft schweigend durch die Stadt, schob mich an Menschenmassen vorbei, ohne die Gesichter der Passanten zu erkennen. Stummer Weg nach Hause, wo ich mich in meinem Zimmer einschloss und nie wieder reden wollte. Ich fühlte, dass ein Gewitter aufzog.

Ich dachte, wenn mich niemand verstand, nur du könntest das. In diesen Momenten spürte ich deine Anwesenheit wie nie zuvor. Du warst ganz nahe, fast greifbar. Ich wünschte mir sehnlichst, dich in meine Arme zu schließen. Dir meine Sorgen zu erzählen. Ich würde dir die Wahrheit nicht vorenthalten. Niemand würde mich besser kennen als du. Ein Blick, und du würdest verstehen. Ohne Worte.

Ich versuchte, dich zu umarmen, doch alles, was ich hielt, war Luft.

Du warst nicht da. Nie.

Vielleicht sahst du mir beim Leben zu. Aber es interessierte dich ja gar nicht, dass es jemanden gab, der ständig an dich dachte. Du ließest mich mit meinen Sorgen und mit meinem Glück allein.

Manchmal fühle ich mich schuldig. Ich vergesse, dass auch ich es gewesen sein könnte, die unsere gemeinsame Existenz verhindert hat. Vielleicht habe ich dir den Platz genommen, den du gebraucht hättest.

In mancher Nacht frage ich mich nach dem Grund, weshalb ich diejenige von uns beiden war, die dieses Leben erfahren durfte.

Bin ich etwa würdiger?

Einst lagen wir eng aneinander gekuschelt da. Geschützt im Körper unserer Mutter schliefen wir.

Unsere Herzen pochten leise, doch deines hörte auf zu schlagen.

Viel zu früh.