Annika Maren Högner (16)

Kokosmilch

Sie war Petra. Am Morgen. Wenn ihre Wimpern noch klebten von der unruhigen Schattennacht. Die kleinen schwarzen. Petruschka für die alte Mutter, grau und inhaltslos. In der Teerunde Freitag und Sonntag nannten sie sie Penny und etwas anderes als billig war sie an keinem dieser Tage. Doch nachts, nicht mehr befangen von der Sichtbarkeit des Tages, war sie nur Coco. Coco wie Korallenriff. Coco wie Kontrast. Wie Kometenschweif. Die, die weinen konnte. Coco: wie Kokain.

Penny, das wollte ich nicht ertragen. Sie so. In ihrem rotgeblümten Sommerkleid, ein Lachen. Wie sie in dem kleinen Wohnzimmer saßen, vier Gänse an der Zahl, und sich grässlich-komische Geschichten erzählten. Gänse, so hatte ich sie genannt. Hannah und Corinna und Marianne. Und meine Coco als Penny dazu. Gequält schlug ich mir dann gegen die Ohren, um endlich taub zu sein. Half nichts. Entwürdigend, die falsche Anmut. Und die kichernden Fratzen wollte ich entstellen, dass sie nur noch wimmern konnten, wie die Kinder, die sie waren.

Wenn es dann Nacht war, endlich, wurde sie Coco. Lag sie in meinen Armen. Roch nach Lavendel. Ein bisschen. Und nach dem Staub, den der Tag über sie gelegt hatte.

Ich bat sie, sich zu waschen. Anfangs. Jedes Mal. Damit ich mehr Stellen finden konnte, die nur nach Coco rochen. An diesen küsste ich sie dann, um mich von ihrer Reinheit zu nähren. Fledermaus nannte sie mich. Grundlos, weil ich ja doch nicht fliegen konnte. Und ich wusste, ich sollte für immer das Nachtschattengewächs sein, das sie küsste.

Jeden Morgen ging ich dann ein. Und, weil Petra mich hasste, wann immer sie die Gelegenheit dazu bekam, begegnete sie mir mit einem verdorbenen Gewissen. Aus falscher Höflichkeit deshalb, und ich wollte ihr das nicht austreiben, ließ sie mich schwimmen. In ihrem Augensee aus Milch. Ich tauchte ein und schwamm durch den Tag, sah die Welt aus ihrem Blick heraus. Wohin sonst hätte ich auch gehen sollen.

Petra ignorierte mich, war sie Petruschka, war ich ihr längst unsichtbar. Und wenn sie Penny wurde, hatte sie mich vergessen.

Sie stand auf, ließ mich liegen. Zerknittert noch, ein Blatt Papier, das man unbeschrieben dem Wind übergibt. Sie. Ausgesetzt. Und aussätzig. Ich. Tauchte ein, ohne zu fragen und schwamm meine Runden. Und ich kratzte. Und ich biss. Aber nur in Gedanken. Natürlich. Die Milch war widerstandslos, mir kalt.

Petra tat gar nichts. Saß da. Von einer Talkshow zur nächsten. Oder die Handtasche neu einsortieren. Es war Donnerstag, bewölkt.

Irgendwann, Runde 612, ich hatte aufgehört zu zählen, musste Mittag sein. Das Klingeln, schrill, zitterte durch ihren Körper. Ich fürchtete, sie müsse zerbrechen, doch sie hatte immer überlebt. »Petruschka!«, kreischte die Stimme, wie immer, und ich wusste, der Kühlschrank. Kaum hatte sie aufgelegt, Schritte auf dem Parkett und dumpf. Das Linoleum. Sie ging in die kleine Küche. Öffnete das Tiefkühlfach, beugte sich hinein. Suche, mein Mädchen, suche. Da stand Donnerstag drauf auf der Dose. Wunderbar. Ihre Wimpern froren ein, der See, aus Eis. Milcheis, das hatte ich einst gemocht. Früher. Die Mikrowelle piepte. Mehr als penetrant. Da hatte ich mal eine Maus drin platzen lassen. Nicht in der, versteht sich. Schwarze Augen, ich war klein gewesen. Hatte sie auf eine Reise schicken wollen.

Tapfer löffelte Petruschka die Tomatensuppe. Gestern auch. Und morgen. Immer wieder. Die alte Mutter kochte für sie, jede Woche neu. Und in Dosen dann Tomatensuppe, nach Wochentag sortiert. Braves Mädchen. Tiefgekühlt.

Ich schwamm außer Sichtweite. Mein Horizont beschränkt auf oben. Sah nur das, was Coco sah. Nacht war oben und unten. Freie Sicht. Jetzt aber verdeckt durch die Scheiben ihrer Lider.

Ich tauchte ein wenig, innen, in ihrem kleinen Kopf, betrachtete ihre Welt, überlegte, ob ich sie in die kleinen Adern stechen sollte, die so reizend pulsierten. Tat nicht, was ich wollte.

Nacht. Ich ziehe mich aus. Mein Mädchen, denke ich, wo bleibst du denn. Sie duscht. Ohne, dass ich sie bitten musste. Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll, entscheide mich. Dagegen. Ich habe sie nicht bitten müssen. Es ist selbstverständlich geworden. Heute. Ich, selbstverständlich. Wir, Tagesablauf. Als sie eintritt, kann ich ihr nicht böse sein, auch, wenn mir kalt ist. Mein Mädchen, denke ich. Und ich sage, was ich denke. Manchmal. Mein armes kleines Mädchen. Mein süßes, süßes, armes kleines Mädchen in dieser Nacht. Und ich liebe sie. Auch an den staubigen Stellen. Die, die wasserfest sind, und überall. Und sie liebt mich, und wir lieben uns, als wollen wir niemals enden. »Sekt«, sage ich. »Wir werden heute Sekt trinken.« Und sie folgt mir, ohne zu fragen. Ich weiß, es ist verwerflich und so gar nicht meine Art, aber ich muss ihr heute nah sein, wo alles selbstverständlich zu werden droht. Als es rauscht in unseren Köpfen, den kleinen, leeren, sind wir allein. Nur wir. Selbst die Furcht in ihrem Seidenhemdchen, hat uns verlassen.

Sie ist nicht mehr Tomatensuppe, Penny nur noch Supermarkt, und ich vor Hitze nass. Sie ist nur noch Coco. Und ich ihr ganz nah. Und ich denke nicht daran, auch noch beten zu müssen ins Nichts, damit diese Nacht niemals endet.

Als sie sich endlich verstört trotz allem entschließt, mich wieder verblassen zu lassen, beginne ich, zu schreien. Ich verstehe die Bedeutung des Wortes Exkommunikation, schreie und schreie, doch sie hört mich nicht. Es ist Freitag, mir übel.

Tomatensuppe und die üblichen Rituale. Und ich. Schreie. Und schreie und unsere Seele in ihrem Leib. Doch mein Horizont, verdunkelt. In Gedanken brenne ich ihn ab. Klopf, klopf, da ist sie schon, das Hemd, die Hand aus Seide. Ihre Augenmilch, Angst, ich darin, und soll warten, bis. Mit der Sonne auch das letzte Licht verschwunden.

Später trifft die Teerunde ein. Hannah und Corinna und Marianne. Und Penny dazu, ein schwarzer Strich auf meinem Horizont, herzlichen Glückwunsch.

Ich schlage mir die Ohren wund, alle lächeln und tänzeln wie die Gänse. Kotzen. Kotzen will ich. Bis die Milch ganz sauer ist. Doch ich kann nicht.

Stattdessen. Schreie ich. »Immer nur du«, woher diese Kraft? »Immer du! Petra hier, Petruschka da, jaja, Mama, ich habe deine Suppe gegessen.« Sie sieht nicht, hört nicht, leer, toter Engel. Lass mich doch.

»Penny«, versuche ich es erneut. »Wie billig du dich verkaufst, eine leere Hülle, ohne Wert. Ohne Respekt. Aber ohne mich wärst du gar nichts, dein Leben ist die Nacht!« Dabei vergesse ich, zu schwimmen, schlucke Milch, die bereits sauer ist.

Kein Wunder, denke ich, als ich mich gefangen, dass sie mich lieben will, heimlich, in der Nacht. Hübsch und stark, wie ich bin, vom Schwimmen in dieser Scheiß-Milch. Hah … Ich tauche unter darin und wieder auf. Will ans Ufer. »Scheiße!«, schreie ich wieder. »Coco, verdammte Scheiße, du bist doch Coco.« Heiser. Fast. »Coco!« Als ich endlich Halt fasse, an ihren Augenwänden, schwarz beschattet, beginnt sie irritiert zu blinzeln. Ah …

»Was hast du denn?«, Corinna aus der Teerunde. Oh, wie sie sich sorgen, wenn so etwas ist. Ich schreie meine Eingeweide auf Pennys Lid. Sie reibt vergeblich. Stürzt auf den Flur hinaus. Nicht fähig, mich zu bitten, aufzuhören. Ich bin doch nicht da um diese Zeit. In die Küche? Will mich einfrieren, nein, so klug ist mein Mädchen nicht. Ich merke, dass es mir eine absurde Befriedigung gibt, sie zu quälen. Endlich Klarheit. Gleichzeitig schmerzt das Atmen in der Kehle, ehrliche Worte nicht mehr gewohnt. Meine arme Coco, wie Penny auch sie zwingen möchte, mich zu hassen, wie sie mich vergessen will, Penny. Mein Mädchen vergaß nur immer sich selbst. Jetzt nicht. Denn ein Punkt auf der Tagesordnung. Nicht ich. Nicht wir. Noch. Nicht.

Sie dreht sich im Kreis, bringt den See in Aufruhr, stößt sich den Fuß am Tischbein an und mir ist, als würde der Kühlschrank lachen.

»Nacht ist immer, und ich nicht selbstverständlich«, flüstere ich noch, das war’s. Die Hand im Seidenärmel führt die ihre und, zack, hat sie mich erstochen.

Aus der Ferne höre ich noch das Kreischen von Gänsen, alles Licht von mir und die Nacht außen herum. Ich werde ihre Erinnerung sein, ihre blinde, denn mich kennt sie nur ohne das Licht, das sie nun verloren. Coco. Und endlich kann sie weinen, immer, und kein Staub wird sich mehr auf ihre feinen Glieder legen.