Alexia Baumgartner (17)

Lebensqualitäten

Wie leblos lag sie in ihrem Bett, die Augen geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Leise hob und senkte sich der Brustkorb, eines der wenigen Zeichen dafür, dass sie noch lebte. Der abgemagerte Körper hatte längst nicht mehr die Kraft, sich selbst zu halten. Die dürren Beine waren nicht mehr fähig zu laufen, sie wären unter dem Gewicht des Körpers eingeknickt. Ihr blasses Gesicht sah alt aus, hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem ursprünglich rotwangigen und jung aussehenden Mädchengesicht, das auf der Familienfotografie auf ihrem Nachttisch zu sehen war. Das einzige Bild in dem kargen Krankenzimmer.

Eigentlich war gerade Essenszeit, aber sie hatte die Kraft dazu verloren; auch der Appetit fehlte gänzlich. Was früher zu ihren Leibspeisen gezählt hatte, widerte sie heute nur noch an. Beim bloßen Gedanken an Essen wurde ihr übel. Lange wäre sie froh gewesen, nicht hungrig zu sein, doch nun, da sie essen sollte, brachte es sie zur Verzweiflung.

Sogar das Trinken bereitete ihr Schwierigkeiten. So viel Mühe sie sich auch gab, nur kleine Mengen des Wassers gelangten in den Magen. Das Meiste, was in ihren Mund kam, wurde unwillkürlich wieder ausgespuckt. Nicht absichtlich, nein, ein Brechreiz, der so stark war, dass sie nicht mehr schlucken konnte, überkam sie. Darum schaute nun häufig eine Krankenschwester vorbei, die ihr durch eine Sonde Zuckerwasser und Vitaminkonzentrate in den Magen pumpte, doch auch diese erbrach sie früher oder später wieder. Oft hatte sie geweint, sich gegen den Brechreiz gewehrt, doch es hatte nichts geholfen, zu lange hatte sie ihren Körper dazu gezwungen, nichts zu behalten, als dass er sich hätte umstimmen lassen.

Meist fühlte sie sich nicht mehr wie ein Mensch, bloß noch wie ein Pflegefall, immer auf jemanden angewiesen. Dann dachte sie an früher, als noch alles in Ordnung gewesen war, abgesehen von den Gewichtsproblemen, für die sie sich immer geschämt hatte. Heute fragte sie sich warum. Sie hatte immer gedacht, sie würde mehr akzeptiert werden, hatte gedacht, ihr Leben würde einfacher mit makellosem Körper werden.

Doch dem war nicht so, und nun musste sie erkennen, was sie alles verloren hatte für den Wunsch, schlank zu sein und sich selbst akzeptieren zu können. Wie oft hatte sie die wohlproportionierten Körper der Frauen im Fernsehen und auf Plakatwänden bewundert. Alle sahen sie glücklich und sorglos aus, doch nun wusste sie, dass der Schein trog, wusste, dass alles nur gespielt war, und sie bewunderte sie nicht mehr.

Am schlimmsten ging es ihr, wenn sie merkte, dass die selbstverständlichsten Dinge nicht mehr funktionierten. Wenn sie Hilfe brauchte, um auf die Toilette zu gehen, wenn sie sich waschen lassen musste, oder wenn sie in ihrem Bett von Kissen gestützt saß, zum Fenster hinaus sah und draußen die Spaziergänger beobachtete.

Oft dachte sie auch an ihre alten Freunde, mit denen sie so viel erlebt hatte. Alle hatte den Kontakt zu ihr abgebrochen. Sie war ihnen nicht böse, nein, im Gegenteil, sie verstand sie sehr gut. Was sollten sie auch mit einer Bettlägerigen anfangen, die oft zu schwach war, um zu sprechen.

Ein, zwei Mal waren sie vorbei gekommen, hatten entsetzt ihr Gesicht betrachtet. Die Zähne, gelbe Stummel, vom Gallensaft halb zersetzt, hatten ihre Blicke in den Bann gezogen, obwohl sie versuchten, nicht auf ihren Mund zu achten. Auch die eingefallenen Wangen oder die blasse Farbe ihrer Haut hatte sie erschreckt. So war bald niemand mehr gekommen, und sie lag allein, den ganzen Tag. Hatte Zeit nachzudenken.

Dann war sie des Denkens müde geworden, hatte nur noch dagelegen. Die Augen geschlossen und für niemanden zugänglich. So hatte sie gewartet, worauf wusste sie lange nicht, doch dann wurde es ihr klar. Sie wartete auf den Tod.