Julia Wallnöfer (16)

Bis morgen

»Bis morgen!« sagtest du mit einem Lächeln, und ich hatte dir geglaubt.

Ich freute mich, weil ich das so vermisst hatte.

Jetzt stehe ich hier und sehe dein Lächeln wieder vor mir, aber du liegst weit unter mir in der Erde. Gerade heute tut die Sonne so, als wüsste sie nicht, was Regen ist. So bleibe nur ich, der um dich weint. Aber selbst meine Tränen werden vom Wind getrocknet, und von ihnen bleibt nicht mehr als die Erinnerung, dass sie einmal da gewesen waren. Von dir bleibt auch nicht mehr als die Erinnerung in den Köpfen von Menschen, die dich nie wirklich gekannt haben. Jetzt stehen sie in schwarz gekleidet vor diesem dummen Stein und spielen Trauer. Dabei hattest du immer gesagt, dass du das scheinheilige Getue von diesen Leuten so hasst.

Sogar an jenem Morgen hattest du dich wieder über meine Mutter aufgeregt, weil sie uns zum Essen eingeladen hatte. Wir hatten uns gestritten, und vielleicht hätte ich da etwas merken müssen.

Jetzt spricht der Pfarrer von dir, wie von einem Menschen, der in seinem ganzen Leben nie etwas Schlechtes getan hatte, dabei kennt er dich doch. Am liebsten würde ich aufstehen und schreien, dass du nicht so warst, dass du gemein sein konntest, und dass du nie etwas von der Kirche gehalten hast, und dass ich dich gerade deswegen so geliebt hatte. Aber ich sage nichts, wie immer.

An jenem Morgen habe ich auch nichts gesagt, obwohl du so schnell zu streiten aufgehört hast und ich mich noch gewundert habe, warum du auf einmal so friedlich bist.

Ich hätte etwas merken müssen, ich dachte wirklich, dass wir uns kennen, aber ich kannte dich nicht genug – nicht genug, um zu wissen, was du vorhattest. Du warst am Vorabend so ruhig, als würdest du den Sinn des Lebens kennen. Vielleicht hattest du ihn wirklich begriffen, aber warum hast du ihn dann nicht mit mir geteilt. Ich wäre dir doch überall hin gefolgt.

So viele Fragen, auf die ich wahrscheinlich nie eine Antwort bekommen werde. Nicht einmal, warum du dieses blöde Haus zu bauen begonnen hast, obwohl ich doch so viel lieber um die Welt gereist wäre.

Ich hatte so viel zu sagen und so wenig Zeit, aber was hätte ich sagen oder machen können?

Vielleicht einfach nur: »Ich brauche dich!« an diesem Morgen.

Du warst immer deinen Weg gegangen, und vielleicht hast du die Kunst im Sterben verstanden.

Doch über allem steht die Frage: »Warum?«

Erst jetzt, wo ich sehe, dass dein Körper unter die Erde geschaufelt und dort von den Würmern zerfressen wird, begreife ich, dass du fort bist, dass ich nie wieder mit dir sprechen oder auch nur eine Berührung von dir fühlen werde.

Es schnürt mir die Luft ab, als mir klar wird, dass mir nichts als die Erinnerung bleibt.

»Bis Morgen!« hattest du mit einem Lächeln gesagt, dahinter eine Lüge. Aber was, wenn es keinen Morgen gibt, der einem das Gestern erklärt.