Claudia Tschida (14)

Kein Traumland

Langsam senkte sich die Sonne gen Westen und tauchte mein Zimmer in einen goldenen Schein. Ich saß vor dem Fenster und träumte mit geschlossenen Augen vor mich hin, als plötzlich meine beste Freundin hereingestürmt kam. Vor lauter Schreck kippte mein Stuhl um, und ich landete auf dem Boden.

»Isabel! Kannst du nicht etwas leiser hereinkommen? Ich habe einen halben Herzinfarkt bekommen!« begrüßte ich sie.

»Tut mir ehrlich leid. Aber ich habe tolle Neuigkeiten!« entschuldigte sie sich. Dann begann sie zu erzählen: »Du hast mich letzte Woche gefragt, ob ich mit dir und ein paar Freunden zelten fahren will. Ich habe meine Eltern gefragt, und stell’ dir vor: Ich darf mitkommen! Also, wann geht’s los?«

»Von mir aus so schnell wie möglich. Ich ruf’ schnell die anderen an und frag’ wer mitfährt.« Isabel ließ sich auf mein Bett nieder und machte es sich dort bequem. Ich dagegen schnappte mir das Telefon und informierte unsere Clique über den baldigen Aufbruch.

Am nächsten Morgen standen Bernd, Isabel, Caro und natürlich Clemens, der als Einziger einen Führerschein besaß, in meinem Wohnzimmer. Wir hatten unsere großen Rucksäcke ins Auto gepackt, und nun hielt uns nichts mehr an diesem Ort. Meine Eltern waren für drei Wochen auf die Malediven gereist, so gab es auch keine Abschiedsszene. Wir stiegen ins Auto und fuhren los.

Wir hatten geplant, zu einem Wald zu fahren, in dem sich ein See befand, zu diesem wollten wir dann wandern. An dem See wollten wir einige Tage verbringen und dann wieder nach Hause zu fahren.

Als wir beim Wald ankamen, war es schon spät am Nachmittag, obwohl wir früh aufgebrochen waren. Trotzdem entschlossen wir uns, nicht bei dem Auto zu übernachten, sondern noch ein Stück zu gehen. Wir schlugen die Richtung quer durch den Wald zum See ein, das war einfacher als die künstlich angelegten Wege zu benützen. Außerdem hatte Bernd eine Karte und einen Kompass mit, weswegen wir sicher waren, uns nicht verlaufen zu können.

Wir wanderten, bis es dämmerte und alle ziemlich erschöpft waren, den See hatten wir noch nicht erreicht. Trotzdem beschlossen wir, hier, mitten im Wald, die Nacht zu verbringen. Ich rollte meinen Schlafsack unter freiem Himmel aus, da ich zu müde war, um das Zelt aufzubauen; ich schlüpfte hinein und schlief bald darauf ein.

Da wurde ich plötzlich von den anderen geweckt. Sie waren sehr aufgeregt und Caro erzählte mir hastig, dass sie beim Holzsammeln auf etwas Unfassbares gestoßen sei. Schnell rannten wir zu der Stelle, und Caro zeigte mir ihre Entdeckung.

»Claudia! Was ist das?« wandte sie sich an mich.

»Ja, genau. Was ist das? Du kennst dich doch mit solchen Dingen aus!« meinte auch Clemens und wich einen Schritt zurück.

Ich dagegen war sprachlos und vor allem neugierig. Caro hatte eine Art große Spirale entdeckt. Sie drehte sich langsam im Uhrzeigersinn und übte einen leichten Sog aus. Irgendwie hatte sie Ähnlichkeit mit einem überdimensionalen, aufrecht hingestellten Wasserstrudel.

»Das muss ein Tor sein!« stellte ich fest und ging bedächtig darauf zu.

Als ich näher kam, wurde der Sog stärker. Ich streckte meine Hand aus, wagte jedoch nicht das Gebilde zu berühren.»Geh’ da weg!« warnte mich Isabel.

Doch Bernd meinte, dass wir uns anschauen sollten, wohin dieses »Tor« führte. Es entstand eine Diskussion, und am Ende entschieden wir uns, durch das Tor zu gehen.

Ich schritt als Erste hindurch und wurde augenblicklich von einem kräftigen Strom erfasst, der mich eine Weile mit sich trug und dann plötzlich hinausschleuderte. Ich prallte gegen eine Wand, rappelte mich auf und wartete auf meine Freunde, die zügig nacheinander aus dem Tor katapultiert wurden.

Wir befanden uns in einem kleinen, aus Lehm gefertigten und unbewohnten Häuschen. Die Eingangstür, die aus morschem Holz bestand, war nicht geschlossen. Als wir die Hütte verließen, offenbarte sich uns ein ärmliches, kleines Dorf. Merkwürdig war, dass zwischen den vielen Lehmhäuschen in dem altertümlichen Flair moderne Überwachungskameras montiert waren. Mir fiel auch auf, dass die Straßen wie ausgestorben vor uns lagen, obwohl es bald Mittag wurde. Später fand ich heraus, dass es bei strengsten Strafen verboten war, sich um die Mittagszeit oder bei Einbruch der Dunkelheit auf den Straßen aufzuhalten.

Wir schlenderten die Straßen entlang und gelangten zu einem Hafen, in dem gut drei Dutzend Fischerboote vertäut waren. Viele Netze lagen in der Sonne zum Trocknen, von einigen tropfte noch das Wasser. Doch von Menschen war weit und breit nichts zu sehen. Vor einigen Häuschen waren Gärten angelegt, in denen die Pflanzen gut gepflegt gediehen. Diese Kleinigkeiten waren für meine Freunde und mich der Beweis, dass hier Menschen lebten.

Uns fiel nicht auf, dass wir mit den Kameras beobachtet wurden. Erst als wir den aufheulenden Motor und die quietschenden Reifen eines Autos hörten, wussten wir, dass unsere Anwesenheit zur Kenntnis genommen worden war. Eine gut erhaltene, vielleicht sogar neue Karosserie kam uns entgegen und bremste in letzter Sekunde. Der Wagen wirkte, genauso wie die Kameras, in diesem Umfeld nicht passend, sogar regelrecht störend.

Wir wurden in das Auto verfrachtet und ohne ein Wort der Erklärung in rasantem Tempo in eine Stadt gefahren. Dort hielt das Auto abrupt vor einem monströsen, ausladenden Gebäude, in das wir unsanft hinein bugsiert wurden.

Drinnen stellte ich fest, dass man uns in ein Gefängnis verfrachtet hatte. Wer uns hierher gebracht hatte, wussten wir nicht, da diese Personen Uniformen trugen, die ihre wahre Identität verbargen. Auch die Wächter dieses Gefängnisses waren so gekleidet. Man trennte meine Freunde und mich voneinander und steckte uns in Zellen, die die Häftlinge nicht mit Gitterstäben vor einem Ausbruch hinderten sondern mit einem Energiefeld.

Ich war so perplex gewesen, dass ich mich bei meiner Verhaftung nicht einmal gewehrt hatte. Doch nun saßen meine Freunde und ich in einem Gefängnis in einer anderen Welt und wussten nicht, wie wir dieses Problem lösen sollten. Ich wusste nicht einmal, wie es meinen Freunden ging, da wir in verschiedene Zellen gesperrt worden waren. Seufzend schaute ich mich in dem kahlen Raum um. Die einzige Einrichtung, die er enthielt, war ein wacklig aussehendes Stockbett mit dünnen Matratzen; in einer Ecke befand sich eine Art Toilette und ein Waschbecken, beides ziemlich verdreckt.

Plötzlich vernahm ich eine Stimme vom oberen Teil des Stockbettes. Ich war also nicht allein hier!

»Warum haben’s dich eingelocht?« fragte mich die rauhe Stimme. Gleich darauf schwang sich ein Gnom von dem Bett herunter und schaute mich fragend an.

Ich war wiederum sprachlos und gleichzeitig auch fasziniert, einen Gnom vor mir zu haben.

Die kleine, hagere Gestalt musterte mich, an einem Holzstück knabbernd, und wurde sichtlich ungeduldig. »Hallo! Hab’n sie dir die Zunge ‘rausgeschnitten, oder was ist?« bohrte er nach.

»Tut mir leid«, begann ich zögernd. »Ich hab’ nur noch nie einen Gnom gesehen. Diesen ersten Eindruck musste ich erst verarbeiten.«

»Du bist nicht von hier«, stellte mein Gegenüber fest, ich nickte bestätigend.

Dann erzählte ich ihm, wie wir hierher gebracht worden waren.

»Ach so. Is’ immer das Gleiche! Seitdem hier diese neue Regierung ist, geht es mit der Freiheit der Bürger den Bach ‘runter. Bei mir hat sich zum Beispiel mein Esel geweigert weiterzugehen, und das mitten auf der Straße! Dadurch ist der ganze Verkehr blockiert worden. Das Hohe Gericht hat mir dafür drei Jahre Freiheitsstrafe aufgehalst. ‚Damit es dir eine Lehre ist.’ haben die gesagt. Aber wir haben sowieso keine Freiheit mehr. Zu Anfang war die Regierung sogar ein Segen. Du musst wissen, dass es hier eine hohe Kriminalität gab. Deswegen führten sie hohe Strafen ein, was auch den gewünschten Erfolg brachte. Heutzutage gibt es keine Kriminalität mehr. Doch leider haben sie die Strafen weiter erhöht und ihr Standpunkt hat sich verhärtet. Jetzt kannst du schon wegen jeder Kleinigkeit ins Gefängnis wandern.«

Ich war entsetzt von diesem Bericht. Es war für mich unvorstellbar, dass es eine Bevölkerung zuließ, so unterdrückt zu werden. Schließlich lag die Macht einer Regierung immer beim Volk. Das sagte ich auch dem Gnom, der erst einmal eine Zeitlang brauchte, diese neuen Gedanken zu verstehen. Doch leider war das alles, womit ich den armen Leuten dieses Landes helfen konnte, mehr stand nicht in meiner Macht.

Am nächsten Tag wurden meine Freunde und ich auf einen Platz vor dem Gefängnis geführt, wo unsere Verhandlung stattfinden sollte. Viele Wesen, darunter nicht nur Menschen, hatten sich auf dem Platz versammelt und warteten neugierig auf das Urteil. Auf einem erhöhten, zentral gelegenen, kleineren Platz saßen fünf seriös auf uns herabblickende Menschen, die das Hohe Gericht zu bilden schienen.

Wir wurden von vier, in teure Uniformen gekleideten Wachen flankiert. Doch auf halbem Wege passierte etwas völlig Unerwartetes. Am Rande des weitläufigen Platzes öffnete sich so ein Tor, wie jenes, durch das wir diese Welt erreicht hatten. Es ging ein Raunen durch die Menge, und viele wichen vor Angst zurück. Auch die Wachen schauten vor Angst starr zu dem wundersamen Gebilde.

Das war unsere Chance. Wie auf einen Befehl hin, stürmten meine Freunde und ich auf das Tor zu. Keiner machte Anstalten, uns aufzuhalten, offenbar waren sie alle viel zu geschockt. Wir sprangen fast gleichzeitig hindurch…

»Claudia, wach auf, es ist schon neun Uhr, wir müssen weiter!« Caro beugte sich zu mir herab und legte ihre Hand auf meine Schulter.

»Und was ist mit dem Gericht, was wirft man uns eigentlich vor?« fragte ich Caro, die erstaunt zurückfragte: »Was für ein Gericht? Hast du Fieber?«

Ich blickte mich um und sah, dass ich mich mitten im Wald befand, und langsam begriff ich, dass ich alles nur geträumt hatte.