Thera Töglhofer (17)

Gott erhalte Florian den Busfahrer!

»Sie muss ins Exil!« sagte Otto von Habsburg leise zu sich selbst, um die Frau, die noch da im Bett lag, nicht zu wecken. »Die Höhenluft wird ihr gut tun!« Erst jetzt, nüchtern betrachtet, wurden ihm die Folgen, die die vergangene Nacht mit sich bringen konnte, richtig bewusst. Er drückte ihr ein silbernes Metalltäfelchen, in das ein Bild der heiligen Jungfrau Maria eingeprägt war, in die Hand. Es würde ihr Andenken an eine unheilige Allianz sein. Dann verließ er den Raum, um zu telefonieren. Beim Hinausgehen hätte er sich beinahe seine Nase am Kronleuchter gestoßen.

30 Jahre später, an einem verschneiten Wintermorgen, nahm der Busfahrer den Schlüssel vom rechten Vorderreifen – zugegeben, kein originelles Versteck, aber der Bus stand ja auch in der Garage – und schloss die Vordertür auf. Er setzte sich hinters Lenkrad, rieb sich die kalten Hände und öffnete dann mit noch immer klammen Fingern den obersten Knopf seines hellblauen Baumwollhemdes. Eine Goldkette kam zum Vorschein. Darauf war ein silbernes Täfelchen mit dem eingeprägten Bild der heiligen Jungfrau Maria. Der Busfahrer betrachtete lange und andächtig die Madonna und küsste sie dann.

Sie hatte einen Jungen geboren, und er sollte, so wie damals alle aus unreiner Vereinigung hervorgegangenen Kinder im Dorf, einen hässlichen Namen bekommen, um schon als Schandfleck der Gesellschaft gebrandmarkt zu sein, noch bevor er dieser nicht angehören durfte. Weil der Junge schon schrie, obwohl das Taufwasser noch nicht einmal über seinen Kopf gekippt worden war, dachte sich der Pfarrer einen, wie er meinte, besonders grässlichen Namen aus. Und er ahnte nicht, welchen Gefallen er dem Kind zwischen all den Kunegunden und Vinzenzen damit tat.

Florian war ein ungewöhnlicher Name für einen Busfahrer. Sonst gab es aber kaum etwas, das ihn von den Busfahrern namens Rudi, Sepp und Gustl unterschied. Er war selbstherrlich und uncharmant, ruppig und schwitzend. Auch er trug eine Goldkette, aber mit einer Madonna daran. Schließlich hatte er eine strenge, katholische Erziehung mit diversen provinziellen Eigenheiten genossen. Daher rührte auch die Angewohnheit, jeden Morgen und nach jeder Mittagspause, bevor er losfuhr, seine Madonna zu küssen.

Erste Haltestelle.

»Grüüüß Gott! Zigarette weg. Kaugummi raus. Grüß Gott heißt es. Wer nicht den Mund zum Grüßen aufbringt, steigt hinten aus und vorne noch einmal ein. Du, leg die Hand auf die Bibel und gelobe, dir das nächste Mal die Schuhe abzuputzen!« Schüler konnte er einfach nicht leiden. Auf seinem Fahrersitz thronend, schöpfte er aus seiner absoluten Befehlsgewalt und duldete keinen Widerspruch. Dennoch brauchte es noch immer zu viel Zeit, bis endlich alle ordnungsgemäß in den Sitzen saßen, mit den Füßen am Boden, den Kopf nach vor gerichtet.

»Grüß Gott!« sagte da eine Stimme. Florian wollte der Stimme und der dazugehörigen Frau schon die Tür vor der Nase zuschlagen, schließlich war es Winter, und er hatte einen Zeitplan einzuhalten. Aber etwas in ihm hielt ihn zurück. Etwas in ihm sagte: »Liebe deinen Nächsten ein wenig so, wie dich selbst.« Vielleicht war es die Stimme seiner Madonna, dachte Florian wohlig schaudernd. Die Jungfrau Maria und seine Mutter, das waren zwei Frauen, von denen er sich etwas sagen ließ.

Die Frau streifte sich gründlich die Schuhe ab. Einige Münzen fielen ihr zu Boden. Von anhaltender Nächstenliebe durchdrungen, sammelte Florian, sich herablassend, die Münzen ein und richtete sich dann langsam wieder auf. Schwarze Lederschuhe, dicke Strumpfhosen, ein knielanger, geblümter Rock, breite Hüften, lange Finger, Schulterpolster, schmale Lippen, eine hohe Stirn. Er sah die Frau an und an und an.

An seinem zehnten Geburtstag ging Florians Mutter mit ihm zum Dorfteich. Sie beugten sich über die ruhige Wasseroberfläche. »Sieh dich an!« sagte die Mutter.

Florian erschrak. Zum ersten Mal in seinem Leben bemerkte er die Adlernase. »Du siehst deinen Vorfahren so ähnlich. Könnte dich dein Vater sehen, er wäre stolz auf dich!« Florian errötete vor Scham. Es war das erste Mal, dass die Sprache auf seine Zeugung kam und auf den Mann, der dazu benötigt worden war. Jetzt bemerkte der Junge auch noch die hervorstehende Unterlippe, die das klassische Habsburger-Profil vollendete. Dass er der Enkel eines toten Kaisers war, war ihm augenblicklich ein schwacher Trost.

Im Laufe der Jahre, in denen Schönheit und Jugend an Bedeutung oder zumindest an Greifbarkeit verloren, wurde er sich seiner edlen Abstammung jedoch immer mehr bewusst. Schließlich hätte er unter entsprechenden Umständen nur zwei Brudermorde verüben müssen, um österreichischer Kaiser und ungarischer König zu sein. Nun musste er sein Amt verdeckt im Kleinen ausführen. In seinem Bus erhielt er die letzte Monarchie Österreichs aufrecht. Alles asphaltierte Erdreich war ihm Untertan.

Eigentlich hätte er gar kein Busfahrer sondern Pfarrer werden sollen. Er war auch immer sehr sittlich und tugendhaft gewesen. Aber um ein Mann der Kirche zu sein, war er leider zu unehelich. Also versuchte er es als Tischler. Dazu war er jedoch zu ungeschickt. Auch als Fleischer bewährte er sich nicht, denn er konnte kein Blut sehen. Zufällig war zu dieser Zeit gerade ein Vertreter für neue Lehrberufe im Dorf. Dieser empfahl Florian, der mittlerweile 20 Jahre alt und in sämtlichen Berufen gescheitert war, doch Busfahrer zu werden. Zum Abschied schenkte ihm seine Mutter diese eine Goldkette mit der Jungfrau Maria. Dann begann der beschwerliche Abstieg ins Tal.

Erst nachdem Florian viele Male unauffällig in den auf die sechste Reihe gerichteten Rückspiegel gesehen hatte, konnte er sich ungefähr erklären, was es war, das ihn so an dieser Frau fesselte. Sie wirkte demütig und stolz zugleich. Es schien so, als wüsste sie, worauf man herabsehen und zu wem man aufsehen musste.

Es beeindruckte ihn, wie sie es schaffte, würdevoll durch den Gang des fahrenden Busses zum Ausgang zu schreiten, ohne Schwanken und ohne umzukippen. Er senkte ein wenig den Kopf und sah ihr in die Augen. »Aufwiederschaun«! Lange sah er ihr nach und nach und nach.

Mittagspause. Die Kaisersemmel mit Extrawurst wollte ihm heute nicht so richtig schmecken. Er war so verwirrt, dass er vergaß, die Seite sieben seiner Kronen-Zeitung zu überblättern, und verschluckte sich. Als er endlich wieder Luft bekam, war er schon fünf Minuten im Zeitplan zurück. Er fluchte, bekreuzigte sich, weil er fluchte, fluchte, weil er sich mit der linken Hand bekreuzigt hatte und fuhr los.

Bei der Haltestelle, in deren Einzugsgebiet der Friseursalon war, warteten bereits einige alte Damen. »Grüß Gooott, meine Damen!« Sie kicherten, wie die Schulmädchen heute nicht mehr kicherten, sie drängelten in den Bus und stießen sich gegenseitig fast von der Gehsteigkante, um den beliebten Platz in der ersten Reihe zu ergattern. Auch Florian mochte die Alten eigentlich recht gern, weil sie so schön vor ihm buckelten, so wie es sich gehörte. In seinem Bus war er der Herr. Da gab es nur einen Herren über ihm und den, der ihm zur Rechten saß.

An Florians rechte Seite hatte es heute eine kurzsichtige Alte mit frischer Dauerwelle geschafft. Sie hatte viel zu erzählen, das Schild »Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen« konnte sie davon nicht abhalten. Florian wusste von so vielen Seitensprüngen, Testamentfälschungen und Giftmorden wie wohl kaum jemand sonst, und er hielt sich an eine niemals versprochene Schweigepflicht. Wem hätte er es aber auch erzählen sollen? Die Betroffenen waren entweder Illusionisten oder tot.

Die kurzsichtige Alte redete und redete, die restlichen Businsassen waren verbittert, weniger über die neuesten skandalösen Vorkommnisse im Hause Windsor, sondern mehr darüber, weil sie nicht persönlich der höchsten Instanz, dem Buschauffeur, von diesen berichten konnten.

Florian gelang es heute nicht so recht, nicht zuzuhören. Er ärgerte sich über die Zustände in der britischen Möchtegern-Monarchie und schaffte es nicht, einen Radiosender zu finden. Ungeduldig trommelte er auf das Lenkrad, sang vor sich hin »Gott behüte Franz den…«. Aber heute traf er die Töne nicht so recht. Er fragte sich, ob die demütig-stolze Frau auch wieder dieselbe Strecke zurück fahren würde. Er fragte sich, warum er sich das fragte. In seinem Leben hatte er nie andere Frauen als seine Mutter und seine Madonna geküsst.

Endlich war er auf einen Sender gestoßen, der Empfang war jedoch sehr schlecht. Es hatte heftig zu schneien begonnen. Langsam walzte der Bus über die Landstraße. Meter für Meter näherte sich Florian der nächsten Haltestelle, ängstlich, enttäuscht zu werden. Der Bus hielt, nach allen Seiten hielt Florian Ausschau, in dem Schneegestöber konnte er aber nicht viel erkennen. Plötzlich stand sie vor ihm. »Grüß Gott! So ein Sauwetter heut’, net wahr?«

»Mhm.« Diesmal landeten keine Münzen auf dem Filzboden. Florian richtete den Rückspiegel. Das Quietschen der Scheibenwischer klang ihm unangenehm in den Ohren. Weiße Wände wurden vor der Windschutzscheibe hin und hergeschoben. Sie saß gerade in ihrem Sitz, hatte die Hände gefaltet und die Augen geschlossen. Florian hatte Mühe, sich auf die kaum mehr sichtbare Straße zu konzentrieren. Dennoch konnte er den Rückspiegel einfach nicht aus den Augen lassen. Der Motor dröhnte laut. Sie hatten den höchsten Punkt des Hügels erreicht, jetzt seine Lieblingskurve. Ein Ruck, plötzlich rutschte ihr Rock hoch und gab den Blick auf ihr rechtes Knie frei, das nur noch von der Strumpfhose umspannt wurde.

Ihm wurde heiß. Er wollte sich die Ärmel hochkrempeln, konnte die Hände jedoch unmöglich vom Lenkrad nehmen. Der Bus schlitterte bergab, er hatte Mühe, ihn auf der Straße zu halten. Aus dem Radio drang nur mehr Rauschen. Wieder ruckte es. Der Rock rutschte noch ein Stück weiter hoch und gab den Blick auf den Ansatz ihres rechten Oberschenkels frei. Er leckte sich über die Lippen. Mit der Zunge ertastete er einen Rest Extrawurst, der zwischen seinen Vorderzähnen steckengeblieben war. Der Duftbaum im Doppeladler-Design schaukelte heftig hin und her. Links waren die Felsen, rechts der Abgrund. Florian konnte sich nicht entscheiden, in welche Richtung er lenken sollte. Er war direkt erleichtert, als er die Kontrolle über seinen Bus verlor.

Unter seinem Hemd war das Silbertäfelchen verrutscht. Plötzlich stockte ihm der Atem: Er hatte vergessen, seine Madonna zu küssen!

Der Bus durchschlug die Leitschienen und stürzte einen Abhang hinab. Die Madonna küsste Florian.