Theresia Töglhofer (17)

Bürgerpflicht

Er hatte es satt, er wollte nicht länger untätig sein. Er wollte Stahlkappen und Boden unter den Füßen. Er wollte dafür sorgen, dass sich alle Bürger in seiner Umgebung frei und sicher fühlten und sich auch dementsprechend benahmen. Er wollte zur Bürgerwehr.

Der Grund des Übels war nämlich das Übel des Untergrundes, des Abgrundes, des Abschaumes. Das waren die Handtaschenräuber und die Drogendealer.

Es war eine einfache Rechnung: Für eine verkaufte Obdachlosenzeitung blieben dem Verkäufer 80 Cent, für zehn Gramm Haschisch bekam er 40 Euro, also das Vierundvierzigfache. Wer kaufte heute noch Obdachlosenzeitungen in Zeiten der Ölheizung? Wer kaufte heute kein Haschisch in Zeiten der Kollektivdepression? Der kleine Schönheitsfehler: Das eine war legal, das andere weniger. Dazwischen stand das Gesetz, breitbeinig, in blauer Uniform und mit Pistolengürtel, zur Rechten des Gesetzes die Bürgerwehr, auch breitbeinig, auch blaugewandet, die Enttäuschung über den fehlenden Waffengürtel hinter die Ohren geschrieben. Wie sollten sich die Bürger denn da wehren?

Er bekam eine Videokamera. Nun war er ein Auge des Gesetzes. Wachsam sollte er dieses auf alles richten, was nicht mit rechten Dingen zuzugehen schien, vorzugsweise auf Obdachlose und Schwarze.

Es würde natürlich nicht einfach sein, das Übel festzuhalten, da kaum zu erwarten war, dass die Dealer sich mit politisch korrektem Lächeln im Gesicht vor der Kamera minutenlang die Hände schütteln würden, bevor sie zur offiziellen Übergabe schritten. Bei Drogendealern war es fast so schwer, sie auf frischer Tat zu ertappen, wie bei Politikern. Doch er fühlte sich dieser Aufgabe gewachsen. Das lag wohl an den Stahlkappenschuhen, die ihn um zwei Zentimeter größer machten, plus fünf Zentimeter Uniformgefühl.

Trotz aller Logik schien die Rechnung jedoch nicht aufzugehen. Die einzigen unrechtmäßigen Handlungen, die er ahnden konnte, waren ein Hundehaufen am Gehweg und ein falsch geparkter Kinderwagen letztes Wochenende. Sein Alltag bestand aus keifenden Damen und ihren Hunden, aus jungen Müttern und ihren Kindern, aus begeisterten Vätern und ihren Modellflugzeugen, dazwischen gelangweilte Jugendliche, die einfach nichts taten.

Es war eben nicht mehr wie damals, in den goldenen Zwanzigern, als es noch Volksaufstände und richtige Straßenschlachten gab. Als man sich wenigstens noch prügeln konnte. Aber heutzutage, in dieser deeskalierten Welt ohne rechte Linke, da blieb nur mehr die Bürgerwehr.

Die Wochen vergingen, seine Begeisterung nicht. Der innere Wachhund war dem inneren Schweinehund überlegen. Durch nichts - auch nicht durch die Erfolglosigkeit und Überflüssigkeit seiner Mission - konnte sein neugewonnenes Wert- oder zumindest Selbstwertgefühl geschmälert werden. Immer wieder spiegelte er sich selbstgefällig in seinen blank polierten Schuhen - Made in Germany. Trotz der erfolglosen Patrouillen hatte er nicht einen Millimeter von seiner anfänglichen Größe eingebüßt. Anstatt, dass die Motivation nachließe, steigerte er sich immer mehr hinein.

Er hatte Lagepläne angefertigt, auf denen alle Hydranten und jedes Hundeterritorium exakt verzeichnet waren. Inzwischen kannte er sein Einsatzgebiet wie seine Hosentasche.

Unendlich bedauerte er die Nachlässigkeit der Schöpfung, den Menschen nicht mit Augen am Hinterkopf versehen zu haben. Diesen physiologischen Nachteil versuchte er, durch den Ankauf einer Rotorkamera auszugleichen. Die finanziellen Mittel dafür brachte er allerdings privat auf. Der Staat sollte lieber für den Kauf von Abfangjägern sparen, um seine Bürgerwehr eines Tages vielleicht aus der Luft zu unterstützen. Auch die Anschaffung eines Nachtsichtgerätes, das er wegen der häufigen Nachtschichten, die er nun übernahm, dringend benötigte, musste er sich selbst finanzieren.

Doch es lohnte sich. All diese Geräte eröffneten ihm neue ungewohnte Einblicke ins Leben seiner Mitbürger und führten ihm gleichzeitig die Beschränktheit seiner Kollegen vor Augen, die ihren Feierabend lieber am Bürgerwehr-Stammtisch als im Videoanalysestudio verbrachten. Während er ihnen ihre mangelnde Arbeitsmoral vorwarf, hielten sie ihm Besessenheit vor. Er sah seine Verbissenheit lediglich als logische Konsequenz seiner Aufgabe an. Ja, er war besessen von dem Gedanken, eine kriminelle Handlung zu filmen, herbeizuschreiten und als Herr der Lage effektiv und gnadenlos… die Polizei zu rufen, den großen, starken Bruder der Bürgerwehr. Ein wenig empfand er diesen eingeschränkten Handlungsrahmen schon als Unterforderung. Anstelle der Handtaschenräuber und Drogendealer wurden ihm die Hände gebunden.

Schließlich war er ein Wachorgan, ein Organ also, und als solches lebensnotwendig. Genauso, wie seine Tätigkeit bei der Bürgerwehr für sein Leben notwendig war. Notwendiger als Schlaf und seine Freundin, die ihn ohnehin aus der Wohnung geworfen hatte. Er übernachtete jetzt auf Parkbänken. Das war für ihn im wahrsten Sinne gut gelegen, denn Wohnort und Einsatzgebiet waren nun dasselbe.

Es wurde Sommer, das Pflaster wurde endlich heißer. Einzig und allein er schaffte es, einen kühlen Kopf zu bewahren. Er hatte immer gewusst, dass es passieren würde. Nun war es soweit, und nur er war am Tatort, keine Kollegen, keine Polizei.

Der Dealer stand im Schatten des Schulgebäudes. Er war schwarz! Unauffällig unterhielt er sich mit einem blassen Mädchen. Das Verkaufsgespräch war also bereits im Gange.

Mit der einen Hand hielt er die Kamera ruhig an sein Auge, die andere hatte er in die Hüfte gestützt. Er überquerte die Straße. Vorsichtig pirschte er sich an die beiden heran. Verdammt, jetzt hatte der Neger ihn bemerkt. Frech grinste der in seine Richtung. Er musste zum Frontalangriff übergehen. Langsam aber zielstrebig schritt er auf den Kontrahenten zu, ohne dabei die Kamera abzusetzen.

Der Dealer winkte, noch immer grinste er von einem schwarzen Ohr zum anderen: »Hey, jetzt ist es aber genug!« und streckte die Hand aus, direkt vor das Objektiv.

Noch nie hatte er die weißen Handflächen eines Negers gesehen, dann war das Bild schwarz. Er war irritiert.

Dies war der Moment, auf den der Dealer gelauert hatte. Er griff nach der Kamera: »Was gibt dir überhaupt das Recht, mich zu filmen?« schrie er ihn an.

Angelockt durch das Geschrei des Schwarzen, strömten die Leute herbei.

Das ermutigte ihn erst Recht, sein Können zu beweisen. Er trat nach dem Dealer und riss ihm die Kamera aus der Hand, wie er es so oft trainiert hatte.

»Lassen Sie meinen Lehrer in Ruhe!« rief das blasse Mädchen.

Aber er ließ sich nicht mehr irritieren. Bevor er sein Vaterland mit Füßen treten ließ, trat er lieber den Neger. Zahn um Zahn würde er ihm ausschlagen. Wenigstens riefen die Schaulustigen nach der Polizei, wenn sie ihn schon nicht tatkräftig unterstützten. Die Polizei würde Recht und Ordnung schaffen.

Als sie endlich eintraf, hatte er ihn bereits am Boden und drückte ihm den Mund zu, damit er die Beweise nicht verschlucken konnte. Stolz erfüllte ihn, als sie ihn von dem röchelnden Lehrer zogen. Die Handschellen klickten.

Erst als er im Polizeiauto saß, beruhigte er sich langsam wieder. Noch nie hatte er sich so bodenständig gefühlt, wie in diesem Moment, Heimaterde und Vaterland unter sich.