Kathi Serles (14) – 1. Preis

Das Konzert

Ihr Herz schlug, als sie die Stiegen zur Wohnung ihrer Eltern hinaufstieg.
Es war seltsam als angemeldeter Gast zu erscheinen. Ihre Mutter öffnete die Tür.
Eine scheue Umarmung, ohne sich wirklich zu berühren.
Alles war wie früher.
Die Uhr tickte langsam.
In der Küche klapperte die Mutter mit dem Kaffeeservice.
Im Hintergrund leise von ganz fern eine traurige Melodie.
Sonata in B minor, K.87 von Scarlatti.
Klavier.

Damals hatte sie Klavier gespielt. Es war immer schon so gewesen und sie hatte es als unabänderliche Notwendigkeit angesehen.
Es gab Zeiten, da hatte sie sich bei privaten Feiern ans Klavier gesetzt und begonnen, die Gäste mit ihrer Musik zu unterhalten. Und es hatte ihr sogar Spaß gemacht.
Und dann war da immer Mutter, der sie jeden Abend ihre neuen Stücke vortrug. Und wenn ihr eines fehlerfrei gelang, begannen die Augen ihrer Mutter zu leuchten. Und das hatte ihr gefallen.
Und Mutter sah ihren Eifer mit einem wissenden Lächeln.

Als die Mutter mit einem Tablett wiederkam, stand sie noch immer dort bei der Tür.
Niemand wagte, ein Gespräch zu beginnen.
Zitternd setzte sie sich und ließ sich Kaffee und Kuchen reichen.
Der Kuchen schmeckte trocken und nach Supermarkt. Der Kaffee bitter.

Ihr erstes Konzert war eine Sensation. Das Publikum war begeistert von ihrem Können und ihrer Musikalität.
Damals war sie gerade erst acht gewesen.
Nach dem Konzert bekam sie von Mutter einen eigenen Flügel geschenkt. Er war schwarz und stand von da an in ihrem Zimmer. Sie hatte dieses Geschenk als Zeichen der Liebe der Mutter zu ihr gesehen und als Beweis für ihren Erfolg.

Der schwarze Flügel in ihrem Zimmer war ihr einziger Freund geworden. War sie einmal traurig oder einsam, legte sie sich unter den wuchtigen Rumpf des Klaviers. Dort lag sie und lauschte und wartete.
Sie kannte ihren Flügel auswendig, der Klang jeder einzelnen Taste war in ihr Gedächtnis gebrannt und des Nachts hörte sie das Klavier im Traum spielen.

Die Tasten, die sie berührte, begannen nach ihrem Willen zu singen oder zu schreien, zu lachen oder zu weinen.
Und mit jedem Ton fühlte sie mit. Sie lernte niemals, ihre Gefühle durch Gesten oder Worte auszudrücken – nur ihr Spiel teilte Außenstehenden ihre tiefste Gefühlswelt mit.
Das war es auch, was an ihr gefiel
Jeder Ton kam von innen, von einem Ort, der nur für sie allein zugänglich war. Und die Zuhörer drängten nach dem intimen Klang dieser Töne. Auf eine seltsame Art befriedigten sie diese Töne und, ohne dass sie es sich selbst hätten erklären können, regte die Musik des Mädchens etwas in ihnen.

Die Mutter hustete.
Traurig bemerkte sie, dass es nichts zu sagen gab.
Die Luft war schal.
Motorenlärm drang von der Straße herauf.
In der Ecke hing noch immer dieser große Spiegel.

Damals standen die Mutter und sie vor dem Spiegel ganz dicht nebeneinander und hielten sich an den Händen. Sie betrachteten sich kurz im Spiegel, dann kreuzten sie die Blicke und suchten im Spiegelbild die Augen der anderen.
»Jetzt bist du ich und ich bin du.«
Sie hatte damals immer gelacht, wenn die Mutter das so feierlich gesagt hatte:
»Ichdu und Duich.«
»Du wirst auch einmal so groß sein wie ich. Und dann wirst du eine weltberühmte Pianistin sein.«
Sie hatte nur gelacht.

Wieso hatte sie erst so spät gemerkt, was die Mutter aus ihr machen wollte?

Abrupt stand sie auf.

»Kann ich noch mein Zimmer besichtigen, bevor ich gehe?«

Die Mutter nickte.
Bedrückt kehrte sie ihr den Rücken zu. Sie hatte gehofft, mit ihr sprechen zu können. Über die Zeit damals. Über ihre Musik. Über dieses eine Konzert damals, an ihrem 15. Geburtstag.

Schließlich war der große Tag gekommen. Alles wartete schon gespannt im großen Saal des Konzerthauses. Ihr schwarzer Flügel, der extra hierher transportiert worden war, stand frisch poliert auf der Bühne. Sie atmete tief durch, umarmte die Mutter und schritt dann auf die Bühne. Nervös war sie nicht, es war mehr oder weniger Routine für sie. Doch heute war die Stimmung irgendwie anders. Das merkte sie schon, als sie sich zum Flügel setzte. Sie legte ihre Hände auf die Tasten. Die Tasten, die ihre Finger schon so oft berührt hatten, waren ihr plötzlich fremd.
Nervös strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und schlug den ersten Ton an. Die Taste schrie. Sie zuckte unmerklich zusammen. Nur nichts anmerken lassen. Immer weiter spielen. Verkrampft begann sie zu spielen. Der erste Satz gelang ihr recht gut, doch als sie den zweiten Satz, Andante, anspielte, grinsten sie die Tasten an. Hämische Münder bleckten ihre Zähne und kreischten oder schrieen gellend wann immer sie sie berührte. Ihre Finger, die doch sonst immer so sicher ihren Weg gefunden hatten, stockten plötzlich und flatterten unschlüssig über die Klaviatur. Schweißtränen tropften auf die Tasten. Schwarz und weiß verschwamm und bildete ein großes Auge, das sie stumm anglotzte. Und dann begann das ganze Klavier zu zittern. Sein riesiger Rumpf bebte drohend und wurde immer größer. Er wuchs und wuchs, bis sie ganz klein und ängstlich unter dem wuchtigen Flügel saß und langsam von seiner Last erdrückt wurde. Noch einmal lachten die Tasten auf, dann verebbte ihr Gesang.
Donnern erreichte ihre Ohren. Furchtsam drehte sie sich um. Das Publikum klatschte begeistert, ihr Flügel stand unschuldig auf dem kleinen Podest.
Sie verbeugte sich.

Zögernd drückte sie die Türklinke zu ihrem Zimmer hinunter.

Wollte sie das sehen? Sich an alles erinnern, was damals gewesen war? Jetzt, wo sie es doch endlich vergessen hatte.

Hinter der Bühne warteten bereits Journalisten, Mikros reckten sich ihr aufgeregt entgegen. Alle wollten ein Bild von ihr, der großen Künstlerin, erhaschen, überall wollte man ein Autogramm oder ein Interview. Endlich hatte sie alle Fragen zur Zufriedenheit der Medien beantwortet, und es wurde still um sie herum.

»Wieso haben Sie begonnen Klavier zu spielen?«

Erschrocken blickte sie auf. Ein Reporter war noch zurückgeblieben. Erwartungsvoll blickte er sie an.
In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen, ein schriller hoher Ton zersprengte ihre Gedanken, ein enges Band schien ihren Kopf zusammenzuschnüren. Die Luft um sie herum wurde schwarz und die drückende Schwüle raubte ihr den Atem. Keuchend stolperte sie aus dem Zimmer in die Damentoilette. Dort brach sie am Boden zusammen und übergab sich.

Wie elektrisiert zuckte ihre Hand vom kühlen, schwarz glänzenden Metall der Klinke zurück.
Das Schlüsselloch gähnte ihr dumpf entgegen.
Wenn sie…, wenn sie zuerst nur einen kurzen Blick hineinwerfen würde…
Langsam kniete sie sich nieder und drückte ihr Gesicht gegen das kleine Loch. Zögernd öffnete sie ihr rechtes Auge. Sie blinzelte.

Als sie ihre Augen öffnete, lag sie zu Hause in ihrem Bett. Blumensträuße waren um ihr Bett angeordnet. Überall Grußkarten von ihren Fans. Ihr Mutter nickte ihr zu und verließ das Zimmer. Sie blinzelte. War das Konzert schon zu Ende?
War sie schon in ihrem Zimmer?
Der Mond gähnte durch das Fenster. Aber es war doch gerade erst Mittag gewesen?
Da verwandelte sich der Mond in ein großes, weißes Gesicht, seine Lippen bewegten sich langsam, so als wollten sie ihr etwas sagen. Doch sie konnte nichts hören. Gebannt stieg sie aus dem Bett und trat ans Fenster. Aber immer noch verstand sie die Worte nicht. Verzweifelt drückte sie ihr Ohr an die kalte Fensterscheibe. Stille.
Hinter ihrem Rücken hörte sie ein Rascheln. Abrupt drehte sie sich um. Die Blumensträuße hatten sich in große, schwarze Tasten verwandelt – die Tasten vom Konzert. Blutrote Lippen spuckten ihr ins Gesicht, sie kreischten ihre Melodie immer und immer wieder. Ihre Hände umkrampften das Fensterbrett, weiß traten die Fingerknochen hervor.
Die Lautstärke der Melodie schwoll an, kroch drohend näher, schien sie fast zu berühren. Sie drückte sich enger ans Fenster und schloss ihre Augen. Nichts mehr hören. Einfach nichts mehr hören. Lass es doch bitte still sein.
Stille.
Es war still geworden. Die Musik war verstummt. Zögernd öffnete sie ihre Augen. Viele Blumensträuße waren um ihr Bett angeordnet. Still stand der schwarze Flügel in der Ecke.

Und zum ersten Mal ergriff sie eine verzweifelte Angst. Was war mit ihr los?
Stumm setzte sie sich an ihren Flügel und strich liebevoll über seine Tasten.

Ein kleines Wörtchen. Fünf unschuldige Buchstaben.
Und dann hatte sie Erbrochenes geschmeckt.

Wieso? Es war doch eine Frage wie jede andere. Wie tausend andere, die sie hatte beantworten müssen.
Nun, was hätte sie ihm den antworten können?

»…«

Ihre Finger zuckten zusammen und hielten dann inne.
Ihr Kopf war leer.
Sie rutschte vom Klavierhocker auf den Boden unter den Flügel. Dort lag sie, auf dem Rücken, die Arme eng um sich geschlungen. Sie blinzelte.
Wieso?
Drohende Stille in ihrem Kopf.

»wieso?«
Ganz leise flüsterte sie es.
Keine Antwort. Nichts.

»WIESO????«
Sie brüllte und schlug wie wild um sich. Der schwarze Flügel bebte.
Dann lag sie wieder ruhig. Der Flügel erstarrte. Es war still.
Und da stand sie nun, klein wie sie war, vor diesem großen, stummen WIESO.
Ganz oben auf dem WIESO stand der Reporter. Und es schien ihr, als lache er sie aus.

Schnell atmend lehnte sie sich wieder zurück. Ihr Kopf dröhnte plötzlich. Drei einsame Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Nur ruhig. Ganz ruhig. Das ist doch alles schon Ewigkeiten her. Hastig strich ihre Hand eine Strähne aus dem Gesicht.
Du gehst da jetzt hinein. Es ist doch nur ein Zimmer. Dein Zimmer.
Ihre Faust umschloss die Türklinke und drückte sie zitternd hinunter. Ganz leise wich die Tür zur Seite.
Als sie ihre einstiges Zimmer betrat, wurde ihr schwindlig. Alles war wie früher. Nichts hatten sie angerührt. Nichts war verändert worden. Alles befand sich dort, wo sie es zurückgelassen hatte.

Und plötzlich waren sie wieder da, die Fieberträume von damals, als sie sich schwitzend im Bett gewälzt hatte.

Hin und her. Ein Wirbelsturm riss sie mit. Einmal in diese Richtung. Einmal in die andere. Tat mit ihr was er wollte. Brüllend tobte der Orkan. Kreischend drehte sich der Tornado. Es war so laut. So laut.
Verkrampft kauerte sie sich zusammen. Wehrte sich nicht gegen den Sturm.
Sie wollte nur mehr in das Auge des Taifuns kommen. Wo es still war. Wo sich nichts bewegte.
Aber der Orkan spielte mit ihr wie mit einer Feder. Peitschte ihr ins Gesicht, riss sie auseinander, brüllte ihr ins Ohr.
Immer wieder ließ er kurz von ihr ab. Hart schlug sie am Boden auf. Blieb reglos liegen. Wissend, dass es nicht vorbei war. Stumm auf den nächsten Windstoß wartend, der sich über ihr zusammenbraute.

Und dann war er wieder da. Schleuderte sie in die Höhe, wirbelte sie erbarmungslos auf und ab.
In der Mitte war sie. Ganz klein und grau. Mit gebeugten Schultern. Zusammengekauert. Nur nichts hören und sehen. Einfach einschlafen.
Nach außen wirkte sie ruhig, totenstill fast. Innen tobte der Orkan.

Sie war damals krank geworden. Tagelang hatte sie dort in ihrem Bett gelegen. Besorgt hatte die Mutter dem Anflug von fiebrigem Lächeln auf den Lippen ihres Kindes gesehen.
Konnte nichts tun. Nur daneben stehen und zusehen, wie sie sich schreiend und keuchend im Bett wälzte.

Nächtelanges Kreischen – laut und durchdringend. Darauf plötzlich armseliges Schluchzen, verzweifeltes Wehklagen.
Und so saß sie gekrümmt am Bett der Kleinen. Betend und den schlafenden Körper beschwörend.
Kind, was tust du denn? Was liegst du hier im Bett? Ich verstehe es nicht. Was siehst du mich so an und bist doch gar nicht da? Kind, du machst mir doch Angst.
Ich will dich ja nur glücklich machen. Unseren großen Wunsch erfüllen. Ich habe es nicht geschafft. Siehst du diese verkrüppelten Finger? Siehst du, was diese Krankheit mit mir gemacht hat? Ich kann nicht mehr Klavier spielen. Aber du. Ichdu hat versagt. Jetzt ist Duich an der Reihe. Erinnerst du dich noch? Duich kann groß werden. Duich kann uns berühmt machen! Wir beide, verstehst du?
Doch ihre begabten Finger umklammerten verkrampft das Leintuch. Sie hörte die Mutter nicht. Im Traum lauschte sie dem Kreischen des Taifuns.

Sie schrie.
Hasserfüllt stürmte sie auf den schwarzen Flügel zu. Schlug auf ihn ein. Immer und immer wieder. Das Holz krachte. Das Holz splitterte. Das Klavier brüllte vor Schmerz. Sie kratzte und spuckte, besessen fast.
Lass los. Lass mich doch endlich allein. Schwarzes Monster. Du bist so schwer. Ich kann dich nicht mehr tragen. Ich bin doch noch so klein.
Der Flügel brach zusammen. Der Orkan lachte auf und verschwand. Schweißüberströmt schwankte sie zum Bett zurück.
Als sie zurücksah, erstarrte sie.
Unversehrt stand der Flügel an seinem Platz und grinste sie höhnend an.

Fast alles war in ihrem Zimmer gleich geblieben.
Nur dort, wo der schwarze Flügel gestanden hatte, zeichneten sich 3 runde Abdrücke im grauen Teppichboden ab.
Für einen kurzen Moment wollte sie sich dort auf den Boden legen. Wie damals. Und lauschen und warten.

Vielleicht hatte sie es schon damals gewusst. Vielleicht verstand sie es aber auch erst jetzt, Als sie in ihrem Zimmer stand. Nach so vielen Jahren.
Dass sie überfordert gewesen war. Mit sich, dem Klavier und ihrer Mutter. Sie war doch noch ein Kind gewesen, und ihre Mutter hatte all ihre Hoffnungen auf sie gestützt, wollte ihr jetzt das geben, was sie nie hatte erreichen können. Sie glaubte, die Kleine damit glücklich zu machen. Ihr den größten Wunsch zu erfüllen.
Und dabei war es ihr eigener sehnlichster Wunsch gewesen – der Traum der Mutter.

Als das Fieber zurückging, verboten ihr die Ärzte weiter so exzessiv Klavier zu spielen. Es strenge sie zu sehr an, sagten sie. Ihre Musik durfte sie behalten – aber nur im privaten, familiären Kreise.
Keine öffentlichen Auftritte, keine Konzerte.
Die Mutter brach zusammen. Sie zog sich zurück. Sprach wenig mit ihrer Tochter. Ertrug es nicht, ihr in die Augen zu sehen.

Seufzend lehnte sie sich ans Fenster. Es war so viel geschehen. Damals, als sie 15 wurde.
Und plötzlich war sie froh, dass die Mutter den Flügel weggeräumt hatte.
Dann entfernte sie sich mit schnellen Schritten. Ihre Schultern zuckten.

Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss.