Barbara Ritter (17)

Weiter nichts

Zögernd trat die Kleine ins Zimmer. Ein stechender Geruch liess sie innehalten, und sie klammerte sich ängstlich an der Türklinke fest. Dann endlich entdeckte sie ihren Grossvater, der auf einem der Betten lag, und sie müde lächelnd erwartete. Erleichtert stolperte die Kleine zu seinem Bett und kletterte unbeholfen hinauf.

»Grossvati!« rief sie und drückte dem alten Mann ein Küsschen auf die Stirn. Er lächelte und fuhr seiner Enkelin liebevoll durch das blonde Haar. Eine Weile sass die Kleine schweigend auf dem Bett und dachte nach. Eine Frage lastete auf ihr, doch sie konnte sie nur schwer in Worte fassen. Sie musterte ihren Grossvater, nahm all ihren Mut zusammen und fragte mit zurückhaltender Stimme: »Wirst du sterben?«

Der Grossvater betrachtete nachdenklich seine Enkelin, die ihn mit grossen und aufmerksamen Augen ansah. Er wusste, dass sie jede Lüge erkennen und nur die Wahrheit akzeptieren würde.

»Ja«, antwortete der alte Mann sanft.

Sie nickte langsam und senkte den Kopf. Eine andere Frage schien sie immer noch zu beschäftigen. Sie verfolgte mit ihrem Blick den dünnen Schlauch, der von der Hand des altem Mannes zu einer Plastikflasche führte. Sie überlegte angestrengt, bevor sie erneut den Mut aufbrachte und fragte: »Wie ist es, wenn man stirbt?«

Der Grossvater legte sein Gesicht in Falten.

»Sterben ist…«, begann er nach einer Weile, »Sterben ist, den Teppich umzudrehen.«

Die Kleine blickte überrascht auf und sah ihren Grossvater fragend an.

»Ja«, wiederholte er, »Sterben ist, den Teppich umzudrehen, weiter nichts.«

Der alte Mann lächelte und streichelte das Gesicht seiner Enkelin, die ihn ratlos musterte.

»Du weißt doch, wie die Unterseite eines Teppichs aussieht?« fragte er.

»Ein Wirrwarr aus farbigen Fäden«, antwortete die Kleine noch immer verwirrt.

Der Grossvater nickte. »Unzählige Fäden in unzähligen Farben, die sich schneiden, sich in einem Wirbel treffen, nebeneinander verlaufen, und sich irgendwann wieder trennen. Es scheint keine Ordnung zu herrschen, und man wird aus dem Chaos nicht schlau, wie manchmal im Leben auch. Und wenn man nun stirbt, dreht man den Teppich um, und erkennt ein wunderschönes und einzigartiges Muster, dessen Schleifen, Wirbel und Kreuze auf einmal einen Sinn ergeben.«

Der alte Mann setzte sich auf und fragte: »Verstehst du?«

Die Kleine nickte langsam, sah in das Gesicht ihres Grossvaters und lächelte.