Susanne Müller (17)

Tropfen

Heute nehmen wenige Menschen meinen Zug. Ich steige ein, gehe den Gang entlang bis zum Ende des Wagens. Im letzten Abteil am Fensterplatz ihre schmale Gestalt, den Kopf in die Ecke gelehnt, halb abgewandt, ein Schatten fällt auf ihr Gesicht, ihr helles Haar verdeckt es ein wenig. Die Träger ihres Sommerkleides auf den bloßen Schultern.

Ich betrete vorsichtig das Abteil.

»Ist hier noch frei?« Die Frage zu Beginn, wie immer, obwohl es eigentlich offensichtlich ist.

Sie deutet ein Ja an, ohne die Lider ganz zu heben.

Ich lege meine Tasche ab und setze mich in die Ecke; so habe ich sie im Blick. Sie ist es wirklich wieder. Beinahe hätte ich laut gelacht darüber, ich muss es unterdrücken. Es ist ihr feines Gesicht, ihr Haar, ihr schwerer roter Koffer in der Gepäckablage. Ihre Ruhe.

Ich schaue auf und lächle. Möchte locker beginnen. »Hallo übrigens.«

Jetzt hebt sie auch den Blick, Wiedererkennen blitzt auf, und ihr Lächeln wird breiter, als sie nun auch grüßt. Sie erinnert sich tatsächlich an mich.

Es ist still im Abteil, sie hat ein Buch auf den Knien liegen und trommelt leise mit den Fingern darauf, ich sehe es an und spiele mit meiner Halskette, möchte reden und weiß nicht genau, wie ich beginnen könnte.

»Darf ich mal schauen?«

Ich rücke nach vor und sehe das Buch genauer an, es ist ein Gedichtband, ich kenne mich nicht gut aus, sage nichts, und sie lacht bei meinem Gesicht.

»Haikus«, sagt sie. »Japanische Gedichte.«

»Ich habe einmal davon gehört…«, sage ich. »Ist es nicht eine bestimmte Anzahl von Silben in jeder Zeile… So etwas.«

Sie nickt. »Leider geht das ja mit dem Übersetzen fast ganz verloren. Ich mag den Stil, es sind all diese Bilder, unheimlich eindrucksvoll…«

Ich blättere ein wenig in dem Buch.

»Ich interessiere mich schon lange für alles Japanische«, sagt sie, ihr Gesicht ist weiter und heller, als sie davon spricht. »Ein Bekannter hat mich darauf gebracht…«

Ich sehe sie an, während sie erzählt. Begeistert, ein gutes Thema, und ich nicke und sehe sie an, beim Sprechen neigt sie ein wenig den Kopf und reckt das Kinn nach vorn, ich höre ihrer Stimme zu, wir sprechen fast die ganze Fahrt miteinander, und ich merke, wie gut sich das Reden anfühlt.

Auf der Heimfahrt davor habe ich sie zum ersten Mal getroffen.

Ich kam zufällig in ihr Abteil, sie saß an die Wand gelehnt, wie fast immer auch all die Male danach, in diesem scheinbaren Halbschlaf, in den man sich oft setzt im Zug. Wir waren fast die ganze Fahrt für uns allein.

Es regnete, das Abteil wirkte düster, der Bezug auf den Sitzen noch grauer und verschlissener als sonst. Der Regen zog Schlieren am Fenster, und sie lehnte den Kopf an die Scheibe und begann, mit dem Finger die Spuren nachzufahren, die die Regentropfen außen hinterließen. Es war angenehm warm im Abteil, fast gemütlich, und ich beobachtete ihre Hände. Sie hatte schöne Hände – ich verglich sie unwillkürlich mit meinen – sie waren beinahe noch schmäler, und hell; weiß ihre Fingerkuppen an der Scheibe.

Ich musste daran denken, wie gemütlich ich Regenwetter schon immer gefunden hatte. Irgendwann begannen wir zu reden, als sie plötzlich auflachte über ihre eigene Beschäftigung, lange hatte sie ganz ruhig an der Scheibe gelehnt – ich hatte die ganze Zeit über ihre Finger beobachtet – und wir redeten über Regen, die schläfrige Wärme im Abteil hüllte uns ein und machte es vertraut. Wir sprachen darüber, wie wir uns als Kinder bei Gewittern zu Hause verkrochen hatten, nicht eigentlich aus Angst, es war nur so gemütlich; und wie gut man bei Regen weinen konnte. Ich merkte, dass ich von Anfang an gerne mit ihr sprach. Es war überraschend, mit jemand fast Fremden so schnell reden zu können, als kannte man sich schon seit Jahren. In dem Moment nahm ich es auf und dachte doch nicht daran, dass ich sie danach wieder treffen könnte, es war auch nur eine Reisebekanntschaft, eine von vielen, meinte ich.

Jetzt denke ich, dass es schon da einfach angenehm war, mit ihr zu reden, und das Gefühl hatte einen seltsamen Beigeschmack.

Das nächste Mal suche ich schon nach ihr im Zug. Ich weiß jetzt, wann sie immer fährt, ich nehme den gleichen Zug wie sie auch und suche sie immer, und irgendwann finde ich sie auch, erkenne sie mit einem inneren Aufblitzen, erkenne erst ihr Haar, wenn es im Licht ist, oder ihre Figur am äußersten Sitz.

Das Abteil ist fast leer, nur sie und ihre Taschen. Ich habe viel Gepäck, zerre es hinter mir durch die Tür und versuche, die schwere Tasche auf die Ablage über den Sitzen zu hieven. Ich habe schlecht angepackt; sie rutscht herunter, ich stolpere zurück.

Sie steht auf bei dem Ruck. »Soll ich dir helfen?« aber dann sieht sie auf ihren Koffer auf dem Sitz und sagt: »Stell die Sachen doch einfach zu meinen dazu.«

Sie steht mitten im Abteil, ihre Stimme in meinem Rücken, ich drehe mich um, es klingt so natürlich, die Luft ist vertraut gleich wie bei unserem letzten Gespräch, selbstverständlich, die Selbstverständlichkeit wickelt mich ein, weich, ich wundere mich, aber ich will es nicht, und ich unterdrücke schnell mein Lächeln.

Sie steht noch immer hinter mir. »Hier ist Platz genug, es ist doch ohnehin nicht viel los.«

Ich sehe mich um. Auf dem Sitz neben ihr der Koffer, der Rucksack, die anderen Plätze sind leer. Ich stehe und lache über meinen eigenen Blick. Sie lacht auch; kurz ist es befreiend.

Wir sitzen zwischen unseren Taschen. Manchmal gehen draußen Menschen vorbei, Ein- und Aussteigende, niemand betritt das Abteil, vielleicht liegt es an den Taschen, es sieht so besetzt aus, denke ich, wir bleiben die ganze Zeit allein, und ich freue mich darüber. Nur dort sie, hier ich, einander gegenüber. Als sie sich zum Fenster dreht, ist ihr Gesicht dunkel, ich sehe nur ihr Profil, Mund und Nase schimmern als Umrisse auf. Ich fahre sie mit den Augen nach und denke, dass es ein schönes Motiv wäre für ein Schwarzweißfoto. Nur sie, von der Seite, schattiert.

Ich schaue und bin froh, dass ich in der anderen Ecke im Düsteren sitze, damit sie meinen Blick nicht sieht, nicht erkennen kann, mich nicht durchschauen kann. Doch sie wendet sich vom Fenster ab und zu mir, ich werde unsicher, und plötzlich ist die Stille viel dichter im Raum.

Ich möchte reden. Schaue mich um und finde nichts, weil mir alles unpassend vorkommt als Gesprächsthema. Sehe wieder nur sie an. Sie hat ein gemustertes Baumwolltuch um Hals und Schultern geschlungen, es ist seitlich am Arm hinabgerutscht, und jetzt setzt sie sich gerade und windet es neu.

»Ich denke schon die ganze Zeit, dass mir das Tuch gefällt«, sage ich. »Woher hast du es eigentlich?«

Sie schaut an sich herunter, fast liebevoll. »Aus Griechenland. Ich habe es fast immer mit. Ich mag es so gern. Und vielleicht ist es dumm, aber ich finde, es riecht immer noch nach Meer.«

Ich lehne mich nicht zu ihr hin und lege die Nase hinein. – Kurz herrscht Stille.

»Ach«, sage ich, »das ist doch schön, einfach als Erinnerung. – Und wer weiß, vielleicht kann es ja sein.«

»Und wenn auch nicht«, lacht sie, »es ist trotzdem eine schöne Erinnerung. Ich glaube, Griechenland vor zwei Jahren, das war der schönste Urlaub, den ich je hatte.«

Ich lehne mich in meinen Sitz zurück. Sommerbilder vor meinen Augen.

»Das glaube ich«, sage ich. »Ich war noch nie in Griechenland, aber ich höre so viele Leute schwärmen darüber… Ich möchte schon auch einmal hin.«

»O ja«, sagt sie. »Das ist es wert.«

»Erzähl doch«, sage ich einfach. Ich möchte mich nur an ihre Stimme lehnen. Der Gedanke spült mich weg, und ich muss die Hand vor den Mund halten, in die Ecke gedrückt, damit ich mich nicht rühren kann, zittern oder anderes. Nicht hinsehen. Sich nicht verraten.

Ich bin schon weggespült worden… denke ich.

Es ist ein heißer Tag, und ich schwitze beim Gehen durch die Gänge, finde sie schließlich ganz am Ende des Zuges, aber es ist eng, das Abteil ist fast voll; ich setze mich gerade noch dazu.

Es ist still, ein dickes Schweigen, jeder ist mit sich selbst beschäftigt; nur ab und zu zieht einer tief die Luft ein; sie ist ein wenig verbraucht und feucht vom Schweiß. Manche lesen. Sie, in die Ecke gelehnt, schläft gleich zu Beginn der Reise wirklich ein. Die Haut auf ihren geschlossenen Lidern ist dünn und hell. Ich beobachte sie, ich habe Zeit. Keiner sieht auf.

Im Nachmittagslicht ist ihre Haut goldgelb, warme Farbe, ihr Haaransatz schimmert fast dunkel, feucht, und ich verfolge einen kleinen hellen Schweißtropfen auf ihrer Stirn, er zittert mit dem Rucken des Zuges und rinnt ganz langsam ihre Schläfe entlang und an der Wange hinab bis zum Hals. Der Hals eine lange Linie. Der Tropfen hat feine glitzernde Spuren hinterlassen, ich möchte sie ganz sachte mit dem Finger nachfahren, spüren, wie ihre Haut darunter zittert, so goldgelb weich zittert wie sie aussieht.

Schon damals im Regen, denke ich, hätte ich ihre Hände gern berührt. Etwas blitzt auf dabei, zieht in mir. Ich spüre die Hitze in meinem Gesicht. Gut, dass keiner mich sieht. Ich wende mich nicht ab.

Ich genieße das Spiel jetzt, beobachte, wie ich immer beobachte, noch genauer nur, immer intensiver. Ich kann mich doch nicht abwenden.

Mein Blick hängt in der Luft, sie muss ihn gespürt haben; sie richtet sich jäh auf, öffnet die Augen, setzt sich gerade, und ihr Blick ist gleich klar, liegt geradewegs auf mir, ein Ausdruck auf ihrem Gesicht, überrascht, plötzlich aufmerksam, verwirrt – ich fühle mich ertappt und fahre unwillkürlich durch mein Haar; Strähnen fallen mir ins Gesicht, das glüht; ich wickle sie um die Finger, immer weiter, und schaue jetzt wirklich nicht mehr auf.

Was soll ich denken.

Sie liest in einem Buch, als ich das nächste Mal komme. Die Vorhänge im Abteil sind halb zugezogen, ich fädle mich hindurch und grüße leise. Sie schaut nicht auf.

Ich setze mich weiter weg und versuche, die Augen halb zu schließen. Die Stille ist greifbar. Sie liest. Ich merke, wie sie Seiten umblättert, ab und zu; manchmal bewegen sich ihre Finger auf dem dunklen Einband unruhig auf und ab. Ich bleibe regungslos, ich weiß auch gar nicht, was ich anderes tun sollte, hänge nur meinen Gedanken nach und gewöhne mich langsam an das Schweigen, lege mich hinein.

Irgendwann klappt sie das Buch mit einem plötzlichen Geräusch zu, legt es zur Seite und sieht mich direkt an. Ihr Atem ist deutlich hörbar.

Ich werde unsicher, reibe mir die Nase und sehe nicht hin.

Ich höre mehrmals, dass sie zum Sprechen ansetzt, aber die wortlose Stille bleibt.

Irgendwann sagt sie:

»Was willst du eigentlich?«

Ich schweige. Was soll ich sagen? Einige Zeit kriecht. Ich nehme mich zusammen.

»Ich mag deinen Hals… und… so.« Fast unhörbar. Damit ist eigentlich alles gesagt. Ich füge hinzu: »Und unser Reden.« Aber es klingt wie eine Rechtfertigung. Ich bleibe stumm.

»Eigentlich hätte ich es gleich sagen sollen«, sagt sie. »Ich habe überlegt… Ich wollte dich eigentlich gar nicht hereinlassen. Sagen, das Abteil ist besetzt, und es dabei belassen.« Sie nestelt an ihren Fingern und seufzt. Dann schaut sie auf, mir direkt ins Gesicht.

»Ich will so was nicht«, sagt sie klar, und, zu laut: »Ich will nichts von einer Frau.«

Ich schweige ganz tatenlos. Starre. Auf meine und ihre verschränkten Füße in Sandalen, ihre vom Sitzen zerknitterte Hose und die Falten in meinem Sommerrock. Das langweilig rostrote Muster der Sitze. Der Raum. Es ist schwül, die Luft dick und gestaut. Unsere Verlegenheit hängt darin.

Ich starre und kann sie dann plötzlich, nach all der Nähe, nicht mehr anschauen. Mit gesenktem Kopf packe ich all meine Sachen, sammle sie ein, scheint es, es geht zu langsam, ich bin in einer Nebelwolke. Dann öffne ich die Abteiltür, seltsam schwungvoll, und trete hinaus auf den Gang.

Ich stehe den Rest der Fahrt am geöffneten Fenster, das Kinn angestützt, das Gesicht im heftigen Fahrtwind. Er schreit in meinen Ohren.