Lisa Mädler (12)

Menschen

Als ich klein war, kannte ich einen Mann, der unter uns wohnte. Er hatte graue Strähnen in seinen Haaren und fast schon einen Bierbauch. Der Mann saß täglich im Café und sah sich die Leute an, die dort saßen. Manchmal dachte er sich Geschichten über sie aus. An anderen Tagen malte er sie. Es gab aber auch Zeiten, wo er sie sich einfach nur ansah. Er starrte sie in gewisser Weise sogar an. Jeden Tag sah ich ihn, wenn ich von der Schule wiederkam. Eines Tages sagte er dann zu mir:

»Willst du nicht einmal mitkommen und dir die Leute angucken? Wir können uns Geschichten über sie ausdenken, oder ich erzähle sie dir.«

Natürlich sagte ich ja, ich kannte ihn schon von Geburtstagen meiner Eltern, und wir verstanden uns sehr gut.

So saßen wir also da und starrten die Leute an. Ich glaube, dieses Café war eines der berühmten in der Stadt, denn ich sah hier einfach alle. Manchmal, wenn mir nichts einfiel, erzählte mir der Mann, was mit diesem Menschen passiert sein könnte.

»Siehst du den alten Mann da drüben? Er ist sicher Manager.« Sagte er einmal.

»Woran erkennst du das?« Ich habe dem Mann dabei ganz tief in die Augen gesehen, um festzustellen, ob er mich auch nicht belügt.

»Er ist so chic angezogen und telefoniert ständig.«

»Der hat es ja so eilig, dass er schon losrennt, bevor sein Kaffee kommt.«

»Meinst du, er hat sich Kaffee bestellt?«

»Ja, bestimmt« sagte ich. »Denn Erwachsene wollen am frühen Morgen immer erst einen Kaffee haben. Weißt du, warum er es so eilig hatte?«

»Ja, sein Golfprofi hat gerade beim Golf einen Fehlschuss geliefert. Da muss er schnell hin, um vor der Presse alles zu vertuschen.

Solche Gespräche haben wir geführt, als ich sieben war. Dann, als ich 15 war, saßen wir immer in den Sommerferien zusammen im Café.

»Sieh mal, die Frau da drüben. Die mit der Zigarette, siehst du sie?« Fragte ich ihn.

»Ja, ja natürlich. Was ist ihr passiert?«

»Ich denke, sie war damals eine der schönsten in ihrer Klasse. Auch, als sie dann älter wurde. Doch eines Tages hat sich ein Mann von ihr getrennt. Er hat gesagt, sie wäre ihm zu alt.«

»Wie kommst du auf so was?« fragte mich der Mann ganz verwundert.

»Sieh sie dir mal ganz genau an. Was fällt dir auf?«

»Sie hat viel zu lange, rote Fingernägel.« Stellte er fest, als er sie mit zusammen gekniffenen Augen ansah.

»Genau. Und sie hat sich sehr stark geschminkt. Fällt dir noch etwas auf?«

»Ja, jetzt schon. Ihr Haar ist blond gefärbt, und sie ist gut gekleidet. Aber ich verstehe dich trotzdem nicht.«

»Na, das ist doch ganz logisch! Als sich der Mann von ihr getrennt hat, da war sie, sagen wir mal, 45. Jetzt?!«

»Ach, du meinst, sie hat nicht verkraftet, dass der Mann zu ihr gesagt hat, sie wäre ihm zu alt?!«

»Na endlich! Und darum schminkt sie sich auch so, und sieht so unglücklich aus. Aber ich weiß nicht, was noch passiert sein könnte, du vielleicht?«

»Ja. Die Frau hat angefangen zu trinken und sich noch mehr als vorher um ihre Schönheit zu kümmern. Aber sie sah nicht so toll aus, wie am Anfang. All die Jahre nicht, wo sie der Mann gesehen hat.«

»Woher weißt du das alles?« Ich sah ihm in die Augen. Erst da fiel mir auf, das er wie gebannt auf die Frau starrte. Kannte er sie etwa?

»Ach, mein Junge, du musst nicht alles wissen.« Sagte er zu mir, als er sich endlich traurig von der alten Dame abwandte. Nun gab es für mich keine Zweifel mehr. Eindeutig war er der Mann gewesen, der ihr gesagt hatte, sie wäre zu alt. Die alte Dame tat mir leid.

Nach dieser Geschichte ging ich nach Hause. Ich hatte mich noch ein wenig mit dem Mann unterhalten, jedoch nicht über Menschen, sondern über meine Zukunft. Doch ich wusste nicht recht, was ich dem Mann erzählen sollte. Ich hatte keinen Berufwunsch. Noch nicht. Der Mann meinte zu mir, ich sollte doch Schriftsteller werden, doch ich lasse mir da noch Zeit.

Ich habe mich nicht großartig verabschiedet, ich musste immer an diese alte Frau denken. Ich habe mich gefragt, ob der Mann sich dessen bewusst war, dass er das Leben einer Freu zerstört hat, mehr oder weniger zumindest. Ich überlegte, ob sie vielleicht morgen wieder da war. Ob ich wohl den Mann dazu bekomme, mit ihr zu reden?

Als ich abends dann in meinem Bett lag, dachte ich daran, dass ich ihn noch nie nach seinem Namen gefragt hatte. Ich nahm es mir für den nächsten Tag vor.

Doch als ich am nächsten Tag in das Café ging, war er nicht da. Ich wartete viele Stunden auf ihn, doch er kam nicht. Ich beschloss dann, wieder hoch zu gehen, vielleicht war er nur wohin gefahren.

Am Abend, es muss so gegen neun gewesen sein, klingelte es an der Tür, und ein Mann von großer Statur stand vor mir. Er teilte mir mit, dass er Arzt ist. Er sagte mir, er hätte eine traurige Nachricht mitzuteilen. Volker Rudolph, der Mann von unten, war mit 69 an Herzinfarkt verstorben. Er wurde entdeckt, als die Nachbarin ihn nach Milch fragen wollte. Sie sagte ihm, ich wäre der beste Bekannte von Volker gewesen. Ich schloss die Tür und setzte mich auf den Boden. Ich wusste nun zwar, wie alt er war und wie er hieß, aber ich hätte es gerne auf eine andere Weise erfahren.

In dieser Nacht konnte ich schlecht schlafen. Die darauf folgenden Wochen waren langweilig, und überhaupt war alles anders. Ich habe mir aber etwas geschworen, was ich bis heute gehalten habe: Ich werde mich weiterhin in das Café setzen und Leute beobachten. Manchmal werde ich sie malen, manchmal werde ich Geschichten über sie schreiben, aber auch mal ein paar Tage nur ansehen.

Heute ist mir etwas Lustiges passiert. Ich wollte auf den Dachboden des Hauses gehen, als ich auf ein kleines Mädchen traf, das auf der Treppe saß. Ich fragte sie, was sie da machte. Sie sagte mir, ihr wäre so schrecklich langweilig, weil ihre Eltern nicht da seien. Ich nahm sie mit zum Café. Sie sagte, es mache ihr sehr viel Spaß. Vielleicht will sie morgen wieder mitkommen…