Lisa Mädler (12)

Rachegelüste

Ich liege auf meiner Pritsche und starre die weiße Decke an. Meine Lieblingsmusik läuft im Radio. Wie schon so oft denke ich über mein Leben nach. Ob es noch einen Sinn macht, so zu leben. Ob es sich noch lohnt, wenn man ständig in der Angst lebt, jemand könnte einen vergessen, oder einem übertriebene Liebe schenken, so wie es Großmütter manchmal tun. Aber was ist mit der eigenen Mutter? Liebte sie einen immer bedingungslos? Oder gab es jemanden, den sie mehr lieben könnte als das eigene Kind? Ich beschließe, mit dem Selbstmitleid aufzuhören. Nicht so wie damals.

Es war vor zwei Jahren. Mein Vater und meine Mutter hatten sich gerade getrennt. Dieses Ereignis war sehr schwer für mich. Aber ich jammerte zu viel und vergaß die Probleme meiner Freundin total. Ich hörte ihr nicht mehr zu. Deshalb ging unsere Freundschaft zu Grunde, die einzige, die ich zu dieser Zeit hatte, und auch die einzige jetzt. Wenn wir einmal miteinander redeten, dann lief das alles sehr kühl ab. So ähnlich war es dann auch mit meiner Mutter. Sie hatte, oder hat, einen neuen Freund. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie liebt ihn mehr als mich. Was heißt manchmal? Immer. Er ging ständig mit ihr ins Kino, in Gaststätten, und alle fünf Minuten verschwanden sie in der Küche. Er kochte und sie – ach wer weiß, was sie da gemacht haben!

Dass meine Mutter mal was mit mir machte, hatte inzwischen Seltenheitswert.

Außerdem versuchte Jon, Mamas Freund, ständig, die Vaterrolle zu übernehmen.

»Cassie – tu dies, Cassie – lass das…«

Eigentlich hasste ich ihn abgrundtief. Er hat mir meine sogenannte Kindheit verdorben, mit seinem Geschrei. Aber gut, von wegen Selbstmitleid und so.

***

Am nächsten Tag gab es Ärger in der Schule. Ich bekam eine glatte Fünf. Und dann auch noch der Ärger zu Hause. Natürlich von Jon, von wem sonst.

»Noch einmal so eine Sache, und du bekommst dein Leben lang Hausarrest…!« Schon klar.

Als ich in meinem Zimmer war, überlegte ich, dass es ohne ihn viel besser wäre. Ich hätte viel mehr Freiheiten. Würde nicht jeden zweiten Tag einen Heulkrampf kriegen, wenn er mir mal wieder gesagt hat, wie blöd ich doch eigentlich bin und wie unnütz. Doch wie sollte ich ihn loswerden? Sollte ich versuchen, ihn psychisch fertig zu machen? Nein, wie sollte ich das machen? Sollte ich ihn bei meiner Mutter anschwärzen? Nein, das hatte noch nie geklappt. Dann kam mir die Idee: Ich hatte einmal im Fernsehen einen Bericht über Vodoo-Zauber gesehen. Angeblich funktionierte er wirklich. Ich konnte es ja mal versuchen. Es kann ja nur viel falsch gehen…

***

Nach der Schule ging ich in den »Schwarzen Laden«, so eine Art Hexenladen für schwarze Magie. Der Verkäufer teilte mir mit, dass man keine Voodoo-Puppen kaufen könne, sie mussten nämlich dem Opfer möglichst ähnlich sehen. Ich kaufte mir ein paar schwarze Nadeln und Kerzen und ging dann nach Hause. Dort fing ich an, Jon aus Knete nachzubauen. Ich wurde immer aufgeregter und ertappte mich manchmal dabei, wie ich hysterisch anfing zu lachen. Ich bekam langsam Angst, das ich verrückt werde. Angst vor mir selber! Doch nichts hielt mich davon ab, weiter zu machen. Als ich dann endlich fertig war, zündete ich die schwarzen Kerzen an und holte die Nadeln heraus. Ich stach die erste Nadel fest in die rechte Kniekehle. Ich spürte regelrecht, wie groß dieser Schmerz sein musste, soetwas ertragen zu müssen. Mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen verließ ich mein Zimmer und ging zum Essen. Die Puppe hatte ich natürlich gut versteckt.

Es hatte gewirkt! Jon klagte schon den ganzen Tag über seine Schmerzen im rechten Knie. Ich beschloss gleich nach der Schule, weiter zu gehen, ich habe ihm eine weitere Nadel in den Arm gesteckt.

 

***

Auch das mit dem Arm wirkte. Ich hatte den ganzen Tag nichts mehr anderes im Sinn. Das fiel auch meinen Lehrern auf, aber ich bekam nichts. Kein Brief, kein Tadel.

Am nächsten Tag wollte ich meinem Ziel noch ein Stück näher kommen. Der Kopf. Bald war es so weit. Bald. Bald hat er uns verlassen, dachte ich damals. Aber was, wenn es jemand bemerkt? Nein, so weit wird es nicht kommen. Ich werde aufpassen.

***

Ich saß da an meinem Schreibtisch und sah mir die Puppe noch einmal genau an. Alles klappte wunderbar. Jon wurde schwächer und schwächer. Was allerdings mit sich brachte, dass er seine schlechte Laune an mir aussetzte. Doch davon wird es nicht besser. Im Gegenteil. Es wird schlimmer, qualvoller…

Aber es geschah etwas Fatales. Als ich am Wohnzimmer vorbei ging, sah ich Jon. Er hielt meine Puppe in der Hand und redete auf meine Mutter ein, die mit dem Rücken zur Tür stand. Doch ihre Hände waren eindeutig vor ihr Gesicht gehalten.

Ich war schockiert und stand da wie angewurzelt. Dann ging alles ganz schnell. Jon hatte mich bemerkt und zog mich auf die Couch. Er schrie mich an. Dann zog er die Nadeln aus der Puppe und schmiss sie auf mich. Die ganze Zeit starrte ich wie gebannt auf die Puppe und dachte über meine nächste Handlung nach.

Doch, wie hatte er sie gefunden? Hatte er mein Zimmer durchsucht?! Dieser Gedanke verursachte eine unglaubliche Wut in mir. Jon meinte, ich hätte so ein verrücktes Glitzern in den Augen, was denn mit mir los sei. Ich hielt es nicht länger aus. Ich griff mir den Brieföffner und fiel über ihn her.

 

Ich habe es nicht geschafft, Jon lebt noch. Und ich sitze hier, allein. Hier ist es noch einsamer als zu Hause. Aber Mama kommt ab und zu, dann habe ich sie nur für mich. Das war früher nie. Jon wollte auch kommen. Doch die Wärter lassen ihn nicht zu mir herein. Sie sagen, er habe zu viel Schaden in meinem Leben angerichtet.

Mit meiner Freundin habe ich mich wieder vertragen. Trotzdem bin ich einsam. Leider habe ich keine Großmutter, die mich mit Liebe überschütten könnte. So verrotte ich hier.

Sobald ich hier rauskomme, werde ich mich an Jon rächen!