Johanna Köb (17)

Spiel mir das Lied…

Reglos lag die junge Frau auf dem dunklen Parkettboden, ihr langes schwarzes Haar malerisch um sie drapiert. Fast zärtlich schmiegte sich ihr weißes Seidennegligee an ihre Haut. Ihre Augen waren geschlossen, der Gesichtsausdruck entspannt. Auf den ersten Blick hätte man glauben können, sie schliefe. Und das Windspiel im Zimmer sang ihr leise sein Schlaflied.

»Den Tisch dort rein, aber bitte vorsichtig! Die Kisten – passen Sie doch auf! Die Kisten bitte in den oberen Stock!« Susan trat zur Seite, um die Möbelpacker vorbeizulassen. »Die erste Türe links!« rief sie dem Mann mit der Kiste nach.

Entnervt warf sie ihre Haare zurück, folgte dem Mann mit ihrem Blick. Dann entschloss sie sich, ihm nachzugehen. Womöglich würde er es doch falsch machen, und sie hatte keine Lust, die schweren Umzugskisten dann selbst verstellen zu müssen. Sie überholte den Mann flink, hielt ihm die richtige Türe auf. Der kleine, etwas dunkle Raum lag kahl und still vor ihr. Sie hatte noch keine Bedeutung für ihn gefunden, und hatte beschlossen, ihn so lange als Zwischenlager zu benutzen. Warme Sommerluft schlug ihr durch das offene Fenster entgegen. »Dort in die linke Ecke«, wies sie den Mann schnell an.

Ein Knallen verriet, dass er die Kiste abgestellt hatte.

»Vorsichtig!« mahnte sie zu spät.

Ein kaum spürbarer Druck streifte sie. Sie hatte das unbestimmbare Gefühl, dass sich irgendetwas in dem Raum verändert hatte.

»Ich hole noch schnell die anderen Kisten, Ma’am«, sagte der Mann, ihren gereizten Gesichtsausdruck ignorierend.

Sie nickte.

Im Erdgeschoss begann ihr Hund zu bellen. Auch das noch! Susan wandte sich ab, lehnte sich ans offene Fenster. Die laue Brise spielte in den Blättern der Bäume, ließ ihr langes schwarzes Haar wehen.

Der Garten, der zu dem alten englischen Landhaus, das sie erst vor kurzem erstanden hatte, gehörte, wirkte kleiner, als er wirklich war. Einen Augenblick lang erschien ihr das Wispern in den Bäumen fast bedrohlich. Es war das einzige Geräusch, das die drückende Stille durchbrach. Wo waren die Vögel? All die kleinen und großen Mitbewohner, die ein Garten normalerweise beherbergte? Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass dieses verlassene Stück Wiese, mit den mächtigen alten Bäumen, die tiefe Schatten warfen, irgendwie leblos wirkte. Wie lange hatte niemand mehr in diesem Haus gewohnt? Auf jeden Fall lange genug, um den Immobilienpreis in den Keller rasseln zu lassen.

Entschlossen verriegelte Susan das Fenster. Als sie sich umdrehte, erblickte sie ein Windspiel, das in der Ecke, wo sie die Kisten stapeln ließ, von der Decke baumelte. Seltsam, sie hatte es noch nie bemerkt. Obwohl es alt wirkte, war es nicht verstaubt. Verwundert blickte sie sich um. In dem ganzen Raum konnte sie kein Staubkorn entdecken. Erst jetzt fiel ihr auf, dass das Windspiel vorher im Wind nicht gespielt hatte, obwohl es immer noch sanft schaukelte. Von unten hörte sie es poltern. Fahrig fuhr sie sich mit allen zehn Fingern durch das Haar, griff sich dann mit einem tiefen Seufzer an die Stirn. »Ich hasse es, umzuziehen!« murmelte sie. »Und ich brauche jetzt dringend eine Zigarette!«

Todmüde lag sie im Bett. Es war eine Katastrophe gewesen, es die Treppe hinaufzuhieven. Verträumt streichelte Susans Hand über den Kopf ihres Hundes, der wie immer vor ihrem Bett lag. Natürlich musste sie noch alle Kisten auspacken, aufräumen, putzen… Aber im Großen und Ganzen hatte sie es geschafft. Zumindest die Arbeit mit den ungeschickten Möbelträgern war fast erledigt! Morgen kamen noch ein Schrank und ein paar Kisten, dann war es vorbei. Als sie an die Decke starrte fielen ihr die unzähligen feinen Risse im Mauerwerk auf. »Einen Maler brauchen wir wohl auch noch«, meinte sie schaudernd. Es graute ihr jetzt schon davon!

Ein leises Quietschen und Schaben ließ sie auffahren. Was war das? Sie konnte spüren, wie ihr Hund das Fell im Nacken sträubte. Er gab ein leises Grollen von sich.

»Pssst!« mahnte sie und lauschte. Das Geräusch war verstummt. Sie glaubte, nur ein leises Klirren zu hören. Zögernd stand sie auf, öffnete die Schlafzimmertüre. Im ganzen Haus war es dunkel, nichts rührte sich. Neben sich konnte sie ihren Hund spüren. Sie mahnte ihn, ruhig zu sein, und spitzte die Ohren. Nichts. Wahrscheinlich hatte sie es sich nur eingebildet, oder ein knarrender Dachbalken hatte ihre strapazierten Nerven überreizt. Dann hörte sie es wieder. Dieses Klingeln… Es war ganz leise, kaum hörbar, und ihr schien, als käme es aus dem Zimmer gegenüber.

Mit einem Ruck öffnete sie die Türe und drehte das Licht an. Natürlich war niemand da, außer dem Klirren und Klingeln, das sich jetzt als leise Melodie entpuppte. Das Windspiel! Sanft schaukelte es an der Decke, klimpernd, spielte sein leises Lied. Die vereinzelten Töne fielen wie glitzernde Eiskristalle, die sich in ihrem Flug vermischten und, von einem leisen Unterton getragen, immer schneller davonschwammen. Irgendwie erinnerte der Klang an winzige Glocken, von Frost überzogen, von Feen dirigiert. Verzaubert legte Susan den Kopf schief. Aus der sinnlich klingelnden Melodie wurden zwei. Eine kletterte langsam hinauf, während die andere dumpf am Rande des Hörbaren schlug. Ein paar Sekunden lang ergänzten sie sich, doch dann wandten sie sich gegeneinander, begannen, sich zu bekämpfen. Die unteren Zwischentöne wurden lauter, schaukelten sich in einem zögernd einsetzenden Crescendo nach oben. Die sanften Eiskristalle wandelten sich in spitze, hohle Zapfen, die fast spürbar kalt auf der Haut brannten.

Abrupt wandte Susan sich ab. Sie atmete tief aus, schalt sich für ihre Dummheit.

»Siehst du, Crack«, sagte sie zu ihrem Hund, der immer noch knurrte. »Es ist nur das Windspiel!« Dabei hatte sie eigentlich gedacht, dass sie – Das Fenster war zu. Ungläubig wanderte ihr Blick von dem Windspiel zum Fenster. Es spielte wie von alleine… Je länger Susan es anstarrte, desto lebendiger schien es ihr. Dummes Ding, dachte sie. Das war der Luftzug, als du die Türe geöffnet hast! Dann erst fiel ihr auf, dass die Kiste nicht mehr unter dem Windspiel stand. Und all die anderen… Sie drehte sich um. Fein säuberlich geschlichtet standen alle Kisten an der anderen Zimmerwand. Müde schloss sie die Augen. Sie hatte doch ausdrücklich…

»Ich habe ihnen gestern doch ausdrücklich gesagt, dass ich die Kisten in der linken Ecke haben will!« schimpfte sie leise vor sich hin, als sie dem Möbelpacker die Treppe vorausschritt.

»Aber Ma’am –«

Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ja, Sie haben die erste Kiste auch dort hingestellt, aber der Rest ist offensichtlich –«

Sie öffnete die Türe mit einem Ruck und blieb so unvermittelt stehen, dass der Mann in ihren Rücken prallte. In der linken Ecke des Raumes standen, fein säuberlich aufgeschlichtet, alle ihre Umzugskisten. Das Windspiel war hinter ihnen fast nicht mehr zu sehen.

»Ich,… ich«, begann sie, und registrierte beunruhigt, wie ihre Knie begannen zu zittern. Das gab es doch nicht! Das konnte doch einfach nicht sein! »Es tut mir leid«, flüsterte sie.

Gierig nahm sie den letzten tiefen Zug. Den Rauch langsam auspustend, drückte sie die Zigarette aus. Sie hatte heute fast eine ganze Schachtel geraucht, es war dringend Zeit, aufzuhören. Desinteressiert blickte sie durch das dunkle Fenster, in dem sich lediglich die nackte Glühbirne ihrer Küche spiegelte, und versuchte, sich auf die leise Musik aus dem Radio zu konzentrieren. Schließlich stand sie auf und nahm die Kaffeetasse vom Tisch, um sie zum Abwasch zu tragen. Crack begann so unvermittelt wild zu bellen, dass sie ihr vor Schreck fast aus der Hand gefallen wäre.

»Crack, was ist denn los!?« fragte sie gereizt.

Der Hund stand an der Schwelle zum Stiegenhaus und bellte immer noch wie wahnsinnig. Das dunkle Fell war wild im Nacken gesträubt.

»Crack, sei doch endlich still!«

Energisch stellte sie das Radio ab. Sie konnte die Unruhe, die schleichend Besitz von ihr ergriff, nicht erklären.

»Was –«

Ein lautes Poltern und Krachen aus dem oberen Stock ließ sie zusammenfahren. Hilfesuchend stütze sie sich an der Küchenplatte ab. Ihr Herz fing an zu pochen, ihre Handflächen wurden feucht. Was hatte dieses verfluchte Haus ihr nur angetan? Sie war vollkommen fertig mit den Nerven. Nie wieder ziehe ich um, dachte sie. Nie wieder!

Crack hatte aufgehört zu bellen, und sie lauschte in die plötzliche Stille. Nichts rührte sich. Sie trat ins Stiegenhaus und ging die Treppe hinauf. Verärgert über sich selbst, registrierte sie, dass ihre Hände zitterten. Der schwarze Hund folgte ihr auf den Fersen. Sie öffnete die Schlafzimmertüre.

War einer der Koffer umgefallen? Oder… Nichts. Verlassen und ruhig lag das Zimmer genau so, wie sie es zurückgelassen hatte. Als sie sich umdrehte, konnte sie das Windspiel bereits leise spielen hören. Es kam ihr vor, als würden sich kleine Eispfeile in ihren Magen bohren. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie nach der Türklinke griff. Ihre Finger zuckten unkontrolliert. Sie öffnete die Türe und drehte das Licht an. Im ganzen Raum lagen die Umzugskisten verstreut, als wären sie von irgendjemandem oder irgendetwas… – sie verdrängte den Gedanken sofort wieder – herumgeworfen worden. Eine oder zwei waren zerbrochen, und über den dunklen Parkett lagen Bücher, CDs und Schuhe verstreut.

»Diese Idioten können nicht einmal Kisten so aufstapeln, dass sie nicht ein paar Stunden später zusammenbrechen!« schimpfte sie. Aber ihre Stimme bebte, und sie wusste nicht, warum sie selbst nicht ganz an ihre Worte glaubte. Das Lied des Windspiels machte sie rasend, und so ging sie hin, riss es ab, öffnete das Fenster und schleuderte das Windspiel hinaus. »Halt doch den Mund«, flüsterte Susan ihm hinterher und schloss demonstrativ das Fenster.

Drei Tage später ließ das laute Quietschen einer Türe sie aufschrecken. Sofort saß sie kerzengerade im Bett, dumpf rauschte ihr Puls ihr in den Ohren. Eine beklemmende Schwere breitete sich in ihrem Inneren aus.

Die Schlafzimmertüre war einen Spaltbreit offen, im Treppenhaus brannte Licht. Der Schein quoll durch den Spalt, verbreitete gelbliches Halbdunkel im Zimmer. Von draußen konnte sie das Windspiel hören, und der Klang drehte ihr fast den Magen um.

»Crack…«, murmelte sie. Der Hund leckte ihr die Hand, als wollte er sie trösten. Dann stand er auf, ging knurrend auf die Türe zu.

»Crack, bleib da!«

Aber der Hund war schon durch.

»Crack!«

Schnell atmend saß sie im Bett, die Hände in das Bettzeug verkrampft. Der Druck in ihrem Inneren wurde stärker, und sie hatte das Gefühl, es würde sie bald zerreißen. Wo wollte der verdammte Hund denn hin?! Wimmernd ließ sie sich zurückfallen. Dieses Haus trieb sie allmählich in den Wahnsinn! Als sie ein leises Aufjaulen hörte, zog sie sich die Decke über den Kopf und blieb zitternd liegen.

»Crack…«, verschlafen öffnete Susan die Augen. Ihr Kopf dröhnte. Sie hatte schlecht geträumt. Vorsichtig ließ sie ihre Hand über den Bettrand gleiten. »Guten Morgen, Dicker!« murmelte sie. Keine Schnauze stupste ihre Hand. Mühsam setzte sie sich auf und lehnte sich über den Rand. Wirr fiel ihr das schwarze Haar ins Gesicht.

»Crack?«

Der Hund war nicht da. Verwundert kratzte sie sich den Kopf, kletterte schließlich mühsam aus dem Bett.

»Crack!« rief sie, als sie ins Treppenhaus tappte. Ihre nackten Füße hinterließen leicht glänzende Spuren auf dem Parkett. Wo zum Teufel war ihr Hund? Ihr Blick fiel auf die halb geöffnete Türe gegenüber. Sie hatte sie doch geschlossen…

Zaghaft drückte sie die Türe auf. Und blieb im Türrahmen stehen.

»Crack?«

Das Zimmer lag friedlich ins orange Licht der aufgehenden Sonne getaucht. Nichts rührte sich. Unwillkürlich glitt ihr Blick in die linke Ecke, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Das Windspiel hing regungslos in seiner Ecke, halb verdeckt von den Kisten. Ein Kloß wuchs in ihrem Hals, drohte, sie zu ersticken. Sie konnte fühlen, wie sich jedes einzelne Haar auf ihrem Körper aufstellte. Dann fiel ihr der muffige Geruch auf.

Mit einem Schritt war Susan beim Fenster, öffnete es und beugte sich hinaus, um frische Luft zu schnappen. Gierig sog sie sie ein, versuchte, ihren Puls zu senken. Als sie ihre Augen öffnete, schrie sie laut auf. Unter ihr im Gras lag der leblose Körper ihres Hundes. Augenblicklich fuhr sie herum, und stockte. Die Türe war geschlossen. Mit nur zwei Schritten sprang Susan zu ihr, griff panisch nach der Klinke, aber ihre schweißnassen Hände rutschten daran ab. Dann begann das Windspiel hinter ihr zu spielen…