Johanna Köb (17)

Crainee

Düster erhoben sich Baumstämme, dicht aneinander, schienen sie in der Ferne zu veschwimmen. Dunkle Pilze, fast wie Geschwüre, klebten an ihnen. Der ganze Wald lag totenstill. All die vielen Stimmen von Fauna und Flora, einzigartig in ihrer Zahllosigkeit, waren verstummt. Sogar das leise Stampfen der Hufe wurde von der modrigen Laubdecke fast vollständig verschluckt.

»Ashlynn, wohin gehen wir?« fragte Rogan zum tausendsten Mal.

Die dunkelhaarige Frau ließ sich noch immer zu keiner Antwort bewegen. »Das siehst du, wenn wir dort sind.«

Ängstlich blickte das junge Mädchen sich um. Der Wald kam ihr unheimlich vor. »Sogar er hat Angst«, deutete sie auf ihr tänzelndes Pferd.

Ashlynn hielt an und drehte sich um. Der Ausdruck, der auf ihrem noch recht jugendlichen Gesicht lag, hatte etwas Entnervtes an sich. »Das ist deine Unruhe, die du auf ihn überträgst.«

Als sie anritt, deutete sie auf ihr eigenes Pferd. »Wie du siehst, macht es anderen nichts aus«, meinte sie dann.

»Trotzdem ist es unheimlich hier!« sagte Rogan trotzig. »Kein normaler Mensch reitet in so einen Wald!«

Ashlynn lächelte. »Natürlich… Das ist ja der Sinn der Sache!«

Rogan schüttelte den Kopf. Sie konnte die ältere Frau einfach nicht verstehen. Ashlynn war immer schon die beste Freundin ihrer Mutter gewesen. Bis zu ihrem Tod, der erst vier Monate zurücklag. Seit dem kümmerte Ashlynn sich um sie, so gut sie konnte. Man merkte ihr an, dass sie – eigentlich eine intelligente, starke, und sehr spirituelle Frau – mit dieser Aufgabe ein wenig überfordert war.

Ashlynn hatte immer schon alleine gelebt, etwas zurückgezogen, in ihre Welten gefesselt. Sie war freundlich zu allen, die sie besuchten, heilte alle Kranken in ihrem Dorf, aber an dem Leben dort hatte sie nie wirklich teilgenommen. Rogan hatte sie immer schon gemocht. Vor allem die vielen Geschichten und Abenteuer, die sie zu erzählen wusste. Von fremden Welten, anderen Wesen, Legenden… Von unklaren Motiven geleitet, hatte die ältere Frau sie nun auf diese lange Reise mit unbekanntem Ziel geschleppt.

Ashlynn brachte ihr Pferd so unvermittelt zum Stehen, dass Rogan fast in sie geprallt wäre.

»Was –«, fragte sie und stockte erschrocken. Auf der Lichtung vor ihnen lag ein Wolf, fast so groß wie ein Pony. Sein silbergraues Fell schimmerte im Zweilicht des Waldes, die großen Augen leuchteten wachsam. Aufmerksam hob er den riesigen Kopf.

Die zwei Pferde begannen, unruhig zu tänzeln, ihr animalischer Fluchtinstinkt machte sich bemerkbar. Mit einigen sanften Worten in einer Sprache, die Rogan nicht verstehen konnte, brachte Ashlynn die Tiere zur Ruhe.

Der Wolf spitzte die Ohren, fixierte die große Frau, die aufrecht im Sattel saß, mit einem wissenden Blick. Einen Augenblick hielten sie eine Art Zwiesprache, dann wandte der Wolf seinen Kopf, der fast so groß wie der eines Kalbes war, Rogan zu. Er beobachtete das Mädchen kurz, erhob sich dann und trottete in den düsteren Wald voraus.

Ashlynn nahm die Zügel auf, und folgte ihm. Wenige Minuten später lichtete sich der stumme Wald und gab den Blick auf etwas, das wie ein Stall wirkte, frei. Dahinter erhoben sich die ersten Boten eines mächtigen Gebirges.

»Stopp!« kam plötzlich eine Frauenstimme aus dem Wald.

Gehorsam hielten die Frau und das Mädchen an.

»Wer da?«

»Ashlynn«, antwortete die junge Frau, und fügte mit einem Blick auf das Mädchen hinzu: »Und Rogan. Aus Caledonien.«

Rogan riss die Augen auf, fasziniert und erschrocken zugleich über den Anblick, der sich ihr bot. Aus dem Wald traten mehrere Frauen. Sie trugen stählerne Brustpanzer und Kilte in allen Tönen von Silber bis Nachtblau, in ihren Händen glitzerten blitzförmige Armbrüste.

Die Erste von ihnen trat nun auf sie zu, das lange schwarze Haar, das mit breiten silbernen Strähnen durchsetzt war, schwang geschmeidig mit jedem Schritt. Ihre Augen, um die sich schwarz tätowierte Linien rankten, blickten freundlich, ein warmes Lächeln lag auf ihren Lippen.

»Willkommen, Ashlynn«, sagte sie.

Die Angesprochene erwiderte das Lächeln. »Jezabel«, erwiderte sie mit einem Nicken.

Schon fast eine Stunde dauerte der Gebirgsritt, den sie danach gemeinsam antraten. Jezabel und die Frauen wurden von vier Kriegerinnen flankiert, der Rest blieb im Tal, in dessen Stallungen sie ihre Pferde gelassen hatten. Die schmalen, steilen Pfade durch die schroffe Felsenwelt hätten sie nicht bewältigen können. Stattdessen ritten sie nun auf jenen fast pferdegroßen, gezäumten Wölfen.

Ashlynn hatte es rund zehn Minuten Überzeugungsarbeit gekostet, das 14-jährige Mädchen auf eines dieser Tiere zu bringen. In einer Mischung aus Schreck und Staunen war sie geritten, jetzt taute sie wieder auf.

»Ashlynn, woher kennst du diese Frau?« flüsterte sie mit einem Seitenblick auf Jezabel, die ihnen auf ihrem schwarzen Wolf vorausritt.

»Ich war schon einmal da«, antwortete die Angesprochene vage.

Rogan horchte auf. »Deine Geschichten, deine Abenteuer… Hast du sie wirklich erlebt?«

Ashlynn musste angesichts der leuchtenden Augen lächeln. »Teilweise ja, teilweise habe ich sie für dich erfunden… Irgendwo musste ich das Heilen ja lernen!«

Rogan war sich sicher, dass die ältere Frau viel mehr konnte, als sie zugab. Die fremde Sprache, zum Beispiel, mit der sie die Pferde beruhigt hatte… Sie wollte hundert Fragen stellen, brach aber unvermittelt ab.

Vor ihnen tat sich ein weiter Kessel im Gebirge auf. Die plötzlich gepflasterten Straßen liefen spiralförmig den Kessel hinunter, eine schimmernde Stadt umspinnend. In der Stadt duckten sich viele kleine Häuser in die Felsen, in der Mitte der Spirale erhob sich ein gigantischer Turm. Alles war aus bläulich schimmerndem Glas, je dunkler, desto undurchsichtiger. Ein schillerndes Mosaik in Silber- und Blautönen, von einem rötlichen Glanz überzogen, erstrahlte unter der sinkenden Sonne.

Überall waren Frauen, deren Haarfarbe von silberweiß, über blaugrau bis nachtschwarz reichte, von bunten Strähnen durchsetzt. Manche waren Kriegerinnen, die auf gleichfarbigen Wölfen ritten, andere trugen lange fließende Gewänder und keine Waffen.

Jezabel drehte sich um. »Willkommen in Craingochg«, sagte sie. »Der Stadt der Crainee!«

Abwesend blies Ashlynn sich das feine schwarze Haar aus dem Gesicht. Sie saß mit dem Mädchen auf einer der Glasterrassen des Palastturmes, in dem sie ihre Zimmer bezogen hatten. Verträumt glitt ihr Blick über den atemberaubenden Sternenhimmel über ihr. Wie Diamanten, die über ein Samttuch geschüttet worden waren, so achtlos verstreut und hell glitzerten die fernen Sterne.

»Ich dachte, die Crainee wären eine Legende«, murmelte Rogan.

»Nein«, sagte Ashlynn. »Das Tor zu ihrer Welt ist nur alle paar Jahre geöffnet, das ist alles.« Ihr Blick strich über die nächtlich glimmende Glasstadt. »Die Crainee sind die tapfersten Kriegerinnen des Mittelkontinentes. Sie sind starke Frauen, niemand hat sie je besiegt.«

»Warum gibt es keine Männer?« fragte das Mädchen leise.

»Sie brauchen sie nicht. Die Crainee sind alt, Rogan. Jede von ihnen lebt seit mindestens 300 Jahren. Die Zeit hier steht still, wenn das Tor zu unserer Welt geschlossen ist, deswegen altern sie nur sehr langsam. Sie sind die besten Heilerinnen. Nur bei ihnen kannst du lernen, was seit Generationen vergessen ist… Nur wenige kennen den Weg hierher, und noch weniger dürfen ihn beschreiten.«

Das Mädchen dachte eine Weile lang nach. »Wie meinst du das?« fragte sie schließlich.

Ashlynn zuckte im Dunkeln die Schultern. »Man muss wissen, wann das Tor offen ist. Man muss mit guten Absichten kommen, um von dem Wolf durchgelassen zu werden. Und man muss bereit sein, das Geheimnis der Crainee zu wahren.«

»Warum hast du mich hierher gebracht, Ashlynn?«

Die ältere Frau seufzte. Zum Glück konnte das Mädchen den Schmerz in ihren Augen nicht sehen. Der Verlust ihrer Freundin hatte sie schwer getroffen, vor allem der Grund ihres Todes. Sie war sich sicher, dass Rogan nichts davon wusste, aber in dem Augenblick, in dem ihr Vater verschwunden war, hatte ihre Mutter begonnen zu sterben. Jeden Tag ein Stück. Sie war nicht stark genug gewesen. Ashlynn schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht verstehen, wie man sein Herz, seine Existenz, sein gesamtes Sein an einen Mann hängen konnte…

»Du sollst eine Weile hier leben, Rogan.« Ihr Ton wurde aufmunternd. In einer seltsam vertrauten Geste griff sie nach der Hand des Mädchens. »Du wolltest doch immer ein Abenteuer, wolltest in fremde Welten abtauchen… Nun sollst du lernen zu heilen, und eine starke Frau werden…«

»Aber… warum?«

Ashlynn strich ihr über die Wange. »Weil deine Mutter es so wollen würde…«