Johanna Köb (16)

Schuldig

Schatten. Zwei lichte Gestalten, verhüllt und umwoben von dem Geheimnis und der Schrecklichkeit des Geschehens. Langsam nahm alles um mich Konturen an. Ich drehte mich, nahm zum ersten Mal wirklich wahr, was um mich passierte, und in mir breitete sich ein unheimliches Gefühl aus. Kalt, undefinierbar. Was zuerst wie Hass schien, wandelte sich in Rachegelüste und plötzlich kehrte eine traurige Ruhe in mir ein.

Ich kannte sie. Alle diese Gesichter, die jetzt voll Abscheu auf ein neues Opfer starrten. Ich hatte diese Blicke alle auch einmal ertragen müssen, und es war die größte Qual meines Lebens gewesen. Nein, fast die größte, dachte ich, als mir plötzlich wieder Hitze ins Gesicht schlug.

Aber mein Tagtraum war so schnell vorbei, wie er gekommen war. Mit Entsetzen stellte ich fest, dass die Person in ihrer Mitte ich war. Ist es noch nicht vorbei? Habe ich geträumt? Panik griff nach mir, und ich versuchte mühsam, sie zu unterdrücken. Ich fühlte wieder, wie ihre Blicke auf mir lasteten, die Angst und das Grauen, das in mir auf die Gelegenheit wartete, auszubrechen und mich zu verschlingen. Die traurige Gewissheit meiner Unschuldigkeit. Aber ich wusste, dass ich keine Chance hatte, dass mein Untergehen von Anfang an geplant war…

Die Vision erlosch. Beim zweiten Hinsehen erkannte ich, dass die Angeklagte nicht ich, sondern eine andere Frau war. Das einzige Gesicht in der Masse, das ich nicht kannte. Was zuerst wie mein rotes Haar ausgesehen hatte, wurde zu einem glattrasierten Haupt, auf dem große Brandmale und Blutflecken prangten. Erschrocken fuhr ich mir durchs Haar. Aber es war da. Weder Büschelweise ausgerissen noch versengt, und am Schluss rasiert. Mein fülliges rotes Haar war wieder da! Aber das war auch fast das Einzige.

Ich trat näher zu der Angeklagten. Ich wagte nicht, in ihr Gesicht zu sehen. Ich wusste, wie es aussah. Zerschlagen, zerkratzt… Ihre Hand, die sich in mühseliger Beherrschung um die Lehne des Stuhles krallte, war am Handgelenk von den groben Hanffesseln wundgescheuert. Und ihre linke Hand… Ich schluckte. Ihre linke Hand war zerschlagen.

Unsagbare Schmerzen explodierten in meiner Linken, aber als ich sie mir vor Augen führte, sah ich zu meiner Erleichterung, dass auch sie wieder hergestellt war. Es gibt also doch einen Gott, dachte ich spöttisch. Und ich glaube an ihn, obwohl sie mir das alle nicht geglaubt haben… die lieben gläubigen Mönche!

Aber um meine Handgelenke wanden sich die gleichen wundgescheuerten Spuren der Fesseln. Unter dem Stoff ihres zerfetzten Kleides sah ich das Teufelsmal in ihrer Schulter. Ich musste nicht nach meiner Schulter greifen, um zu wissen, dass es ebenfalls noch da war. Ein kleiner Beweis für die Öffentlichkeit. Natürlich hausgemacht in den »Gemächern« in den tiefsten Kellern des Kerkers. Ein eisiger Schauer kroch mir über den Rücken. Ich sah sie wieder, die rußgeschwärzten, blutverschmierten Wände der Kammer, in der die »peinliche Befragung« durchgeführt wurde. Ein netter Begriff, um die Wahrheit ein wenig zu verschleiern. Was für die unwissende Bevölkerung wie ein harmloses Kreuzverhör klang, war in Wirklichkeit der Alptraum eines jeden Gefangenen: Folter, um Geständnisse zu erzwingen von Sünden, die es nicht gab…

Dann sah ich es vor mir, das Gesicht des Mannes, als er mich zum hundertsten Mal aufforderte zuzugeben, was ich gotteslästerliches Ketzerisches getan hatte, und gegen die Liebe Gottes verstoßen hatte. »Gestehe!«

Ich wusste einfach, dass es dieser Frau genauso ging, wie mir. Gepeinigt von der Angst und von der Erinnerung an das triumphierend lächelnde Gesicht des Inquisitors. Als dieses Wort in meinen Gedanken fiel, durchfuhr mich Panik, aber im gleichen Augenblick wusste ich, dass sie mich nicht sehen konnten. Der Rat und der Inquisitor. Ich wagte einen Test und stellte mich direkt vor Pater Bernardus, den Amtsinhabenden Inquisitor. Jener kleine hässliche, untersetze Mönch, der mir den Prozess zur Qual gemacht hatte.

Er starrte weiterhin hasserfüllt auf die zusammengesunkene gefesselte Gestalt auf dem Stuhl in der Mitte. Plötzlich wurde er unruhig. Er spürt, dass ich da bin, dachte ich triumphierend. Oh, ja… Du weiß nicht, wo ich bin und wer ich bin, aber du spürst mich… Geschieht dir nur recht!

Berauscht von dem Gefühl, etwas tun zu müssen, griff ich nach ihm, blies ihm in den Nacken und strich ihm über das Haupt. Zu meiner Zufriedenheit konnte ich beobachten, wie sich jedes einzelne Härchen in seinem dicken Nacken sträubte. Er fing an zu zittern und sprang plötzlich auf. Sehr zur Verwunderung seiner Mitgenossen. Aber er fasste sich schnell wieder und nahm sein Opfer weiter ins Kreuzverhör.

Ich wusste, dass ich nicht viel tun konnte, aber ich stellte mich hinter die Frau und drückte ihr die Schultern. Ich wusste, dass auch sie mich spüren konnte, aber im Gegensatz zu dem Mönch entspannte sie sich.

»Gib endlich zu, was du getan hast, Weib!« schrie der Inquisitor zum hundersten Mal.

Ich fing an zu zittern. Ich wusste nur zu gut, was jetzt kommen würde. Aber die Frau reagierte genauso wie ich damals.

»Ich bin mir keiner Schuld bewusst, Hochwürden«, flüsterte sie fast unhörbar. Ihre Kräfte waren am Schwinden, aber sie verteidigte immer noch ihre Unschuld.

»Wiederrufe dem Teufel, du gottlose Ketzerin!«

»Ich bin nicht besessen. Ich war es nie. Glaubt mir! Warum bestraft ihr mich, weil ich mit Gott rede?«

Empörtes Gemurmel erhob sich. Ein Bischof erhob sich. »Jeder, der behauptet, das Wort Gottes zu verkünden, wird als Ketzer verbrannt! Also bekenne deine Sünden!«

Schweigen. »Gilt das auch… für einen Bischof?«

Tröstend strich ich der Verdammten über den kahlen Kopf und achtete darauf, ihre Wunden nicht zu berühren.

Als ich den an sie gerichteten Blick des Inquisitors auffing, verwandelte sich ihre Haut in Feuer. Überall rund um mich loderten plötzlich Flammen auf. Die Hitze explodierte wieder in meinem Brustkorb und ich begann, mich im Feuer zu winden. Irgendwo über mir war ein Funken blau des Himmels im schwarzen Rauch, den das Feuer unter mir neben mir verursachte.

Aber als ich anfing zu schwitzen, war es vorbei. Ich griff nach meiner Stirn. Sie war kalt. Auch meine Hände waren nicht schweißgebadet, wie ich gedacht hatte, sondern eiskalt. Ich wusste, was jetzt passieren würde. Aber noch bevor ich aufblicken konnte, hörte ich mir wohlbekannte Worte.

»Hiermit erkläre ich die Angeklagte für schuldig, und verurteile sie zu Tod durch Feuer. Brenn, ketzerische Hexe!«

Ich hatte genug gesehen. Und es war endgültig das Letzte, das ich je sehen sollte. Es machte mich traurig zu sehen, wie weit die Menschen gingen, um den Glauben an Gott zu erhalten. Aber das hatte damit nichts zu tun… Frauen zu opfern, um etwas zu beweisen, das es nicht gab. Sie zu einem erfundenen Geständnis zu zwingen durch die grausamste Folter, die man sich nur vorstellen konnte. In diesem Augenblick wünschte ich, eine echte Hexe zu sein, und sie alle zu verfluchen! Oh ja, ihr Mönche, es gibt für alles Zeugen! Ich frage mich, ob bei mir auch ein Zeuge anwesend gewesen war. Oder eher eine Zeugin… Jemand, der mir tröstend die Schulter gedrückt hatte, und mir das Bewusstsein erhalten hatte.

Abermals stieg dieser unbändige Hass in mir auf, der fast so schlimm in meinen Lungen brannte, wie das Feuer. Wie gern würde ich euch verfluchen! Ein kühler Wind blieb hinter mir zurück, als ich meine letzten Schritte tat, um für immer die Augen zuschließen.

Ihr habt nicht gesehen, wie ich kam, ihr werdet auch nicht sehen, wie ich wieder gehe…